Urteil gegen Nawalnys Organisationen: Was ist passiert?

Alexej Nawalny, Oppositionsführer aus Russland, steht hinter einer Scheibe im Moskauer Bezirksgericht.

Alexej Nawalny, Oppositionsführer aus Russland, steht hinter einer Scheibe im Moskauer Bezirksgericht.

Moskau. Akuter Zeitmangel und quälend lange Warterei: Was sich wie ein Widerspruch anhört, ist für Rechtsbeistände des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny Alltag. Als die Strafverteidiger Iwan Pawlow und Waleria Wetoschkina von der Bürgerrechtsorganisation Kommanda 29 am 26. April beim Moskauer Stadtgericht vorstellig wurden, um Nawalny zu vertreten, wurde eines schnell klar: dass ein riesiges Arbeitspensum innerhalb kurzer Zeit für sie anfallen würde.

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Was aber nicht bedeutete, dass trotz all dieses Bemühens mit einer schnellen Entscheidung zu rechnen sein würde. Tatsächlich hat es nun sechs Wochen gedauert, bis das Gericht in erster Instanz entschieden hat, Nawalnys Antikorruptionsstiftung FBK als „extremistisch“ einzustufen.

Drei Tage hatte das Gericht Pawlow und Wetoschkina am 26. April gegeben, um Dokumente in drei großen grünen Plastiktüten mit einem Gesamtgewicht von mehr als zehn Kilo durchzuarbeiten: „Das ist bei einem solchen Aktenberg nicht leicht zu bewerkstelligen“, hatte Pawlow auf der Internetseite der Organisation geschrieben.

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Noch ernüchternder war allerdings der Umstand, dass sich in den Tüten nur jene Schriftstücke befanden, die die Behörden freigegeben haben. Es gebe noch einmal viereinhalb weitere Bände mit Verschlusssachen, „die als Staatsgeheimnisse nur im Gericht eingesehen, nicht abgeschrieben oder fotografiert werden dürfen: Erst wenn wir diese Unterlagen einsehen konnten, wissen wir, wie viel Arbeit auf uns zukommt.“

Verfahren ohne öffentliche Transparenz

Dass das Verfahren für Nawalnys Anwälte langwierig und strapaziös werden dürfte, war damit schon im April klar. Denn es stellt einen Balanceakt dar, in einem Verfahren mit Verschlusssachen die Absurdität des Extremismusvorwurfs öffentlich zu benennen, ohne sich angreifbar zu machen:

„Wir werden unser Bestes geben“, hatte Pawlow gesagt, „das Verfahren der breiten Öffentlichkeit gegenüber so transparent wie möglich zu gestalten, ohne formal irgendwelche Staatsgeheimnisse zu offenbaren.“

Dass er diese Gelegenheit nicht bekommen sollte, musste der Jurist nur vier Tage später zur Kenntnis nehmen. Denn da wurde er selbst verhaftet. Offiziell wird Pawlow vorgeworfen, in seiner Funktion als Rechtsbeistand des wegen Spionage angeklagten Militärexperten Iwan Safronow Staatsgeheimnisse verraten zu haben.

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Doch der 50-Jährige glaubt, dass das nur ein Vorwand ist. In Wahrheit sei er vielmehr durch die Übernahme des Mandats für Nawalny’s Antikorruptionsfonds in die jetzige missliche Lage geraten, sagte er der „New York Times“ in seinem Haus bei Sankt Petersburg, wo er sich inzwischen bei striktem Internet- und Telefonverbot aufhalten darf: „Das hat hohe Beamte dazu gebracht, gegen mich vorzugehen.“

So ist das Ergebnis, mit dem so gut wie alle Beobachter von Anfang an gerechnet hatten, nun ohne die öffentliche Transparenz zustande gekommen, dank derer Pawlow in Russlands politisch beeinflusstem Justizsystem manch unerwarteten Erfolg feierte: Nach einer Marathonsitzung von mehr als zwölf Stunden folgte das Gericht den Anträgen der Staatsanwaltschaft in allen Punkten und stufte Nawalnys Stiftung als „extremistisch“ ein.

Seinen Regionalstäben hatte die Staatsanwaltschaft schon vor dem Prozess die Arbeit verboten. Zur Begründung hieß es: Diese über das ganze Land verteilten Büros seien soziale Bewegungen ohne juristischen Status. Ihr Verbot müsse nicht gerichtlich angeordnet werden. Das Gericht bestätigte nun dennoch, dass die Nawalny-Büros als „extremistisch“ anzusehen seien. Der für Pawlow eingesprungene Strafverteidiger Jewgeni Smirnow kündigte an, in Revision zu gehen.

Kritik aus Großbritannien und den USA

Nawalnys Unterstützer hatten das Verfahren schon im Vorfeld als politisch motiviert kritisiert. Im Zusammenhang mit einem neu erlassenen Gesetz dürfen sie nun unter anderem bei der Parlamentswahl im Herbst nicht mehr antreten.

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Laut Anwälten ist es den Anhängern des 45-Jährigen nun unter anderem verboten, Kundgebungen zu organisieren, Finanztransaktionen zu tätigen und beliebige Informationen zu verbreiten. Das Gericht beschloss außerdem, das Vermögen der Nawalny-Stiftung in Staatseigentum umzuwandeln.

Nach diesem Urteil ist Nawalnys Proteststruktur in der bisherigen Form aufgelöst. „Ich denke, das ist ein Vorgang“, sagte die Politologin Maria Lipman dem britischen Nachrichtenkanal Sky News, „der zur endgültigen Zerschlagung der Organisation führen soll. Wenn sie so wollen, wird damit die Nawalny-Frage ein für alle Mal geklärt.“

Auf Nawalnys Instagram-Account wurde das Gerichtsurteil in seinem Namen kommentiert: „Wenn Korruption die Grundlage der Staatsmacht ist, sind Antikorruptionskämpfer Extremisten.“

Kritik an dem Urteil kam auch aus Großbritannien und den USA: „Es ist ein weiterer kafkaesker Angriff auf diejenigen“, sagte der britische Außenminister Dominic Raab, „die sich gegen Korruption und für eine offene Gesellschaft einsetzen, und es ist ein bewusster Versuch, echte politische Opposition in Russland effektiv zu verbieten.“

Der Sprecher des US-Außenministeriums Ned Price erklärte: „Mit dieser Maßnahme hat Russland faktisch eine der wenigen verbliebenen unabhängigen politischen Bewegungen des Landes kriminalisiert.“

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Nawalnys bisherige Organisationsgliederung

Es war eine heterogene Bewegung, die Nawalny und seine Anhänger über die Jahre aufgebaut haben. Sie bestand aus 37 Regionalbüros und einer Stiftung mit zwei Namen.

Stäbe

Die Büros, die als Stäbe bezeichnet wurden, hatte Nawalny eingerichtet, als er zur Präsidentschaftswahl 2018 antreten wollte, zu der er nicht zugelassen wurde. Seither war die Zahl der Büros gesunken, doch sie waren bis zum Verbot im April immer noch an 37 Standorten in ganz Russland präsent.

Sie boten protestwilligen Aktivisten einen Anlaufpunkt bis tief ins Hinterland hinein: „Wir sind harte Knochen“, antwortete Jelena Lekiaschwili von Nawalnys Stab Jaroslawl auf die Frage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND), ob sie keine Angst habe, den Oppositionspolitiker zu unterstützen.

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Und den Stäben gelangen auch innerhalb der offiziell zugelassenen Strukturen politische Erfolge: Bei den Regionalwahlen im September 2020 setzten sie sich gegen die übermächtige kremlnahe Partei Einiges Russland vereinzelt durch. In Russlands drittgrößter Stadt Nowosibirsk gewannen drei Nawalny-Anhänger ihre Wahlkreise und in der von vielen Studenten bewohnten Stadt Tomsk schafften zwei von ihnen den Einzug in den Stadtrat.

FBK

Die Stiftung zur Bekämpfung der Korruption – russisch als FBK abgekürzt – bestand seit 2011 und hatte seither knapp 90 Ermittlungen eröffnet, die häufig den fragwürdigen Erwerb von Vermögen durch hohe Funktionäre zum Inhalt hatten.

2013 musste sich etwa Moskaus Oberbürgermeister Sergej Sobjanin unangenehmen Fragen in Bezug auf seine 306 Quadratmeter große Wohnung im Stadtzentrum stellen. 2017 löste die FBK-Stiftung mit einem Youtube-Video über den exorbitanten Besitz des damaligen Premierministers Dmitri Medwedew große Demonstrationen aus. Zehntausende gingen in 100 Städten Russlands gegen die Korruption auf die Straße. Das Medwedew-Video wurde seither mehr 43 Millionen Mal angeklickt.

Mit dem Youtube-Film „Ein Palast für Putin“ über eine obskure Luxusresidenz am Schwarzen Meer sprengte Nawalnys Stiftung Anfang dieses Jahres allerdings alle ihre bisherigen Reichweitenrekorde: Das Video ging bislang mit mehr als 117 Millionen Aufrufen viral.

Seit 2019 wächst der staatliche Druck

Nawalny selbst war spätestens seit der Gründung der FBK-Stiftung im Jahr 2011 staatlicher Repression ausgesetzt. Seit diesem Zeitpunkt wurde er immer wieder nach der Teilnahme an Demonstrationen für kürzere Zeit ins Gefängnis geworfen, mit Strafverfahren wegen Veruntreuung, Betrugs und Geldwäsche überzogen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte allesamt als politisch motiviert und willkürlich verurteilt hat.

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Nawalnys Organisationen spürten allerdings erst seit 2019 eine deutliche Zunahme des staatlichen Drucks, von dem die Instanzen dann allerdings umso geballter Gebrauch machten.

  • Im August 2019 eröffnete der Untersuchungsausschuss der Russischen Föderation ein Strafverfahren gegen die FBK-Stiftung wegen angeblicher Geldwäsche. Daraufhin kam es landesweit in 40 FBK-Büros zu Razzien.
  • Im Oktober 2019 wurde die Stiftung nach einer Verleumdungsklage eines Unternehmens des kremltreuen Großgastronomen Jewgenij Prigoschin zu einer Geldstrafe in Höhe von 29,2 Millionen Rubel (328.000 Euro) verurteilt. Nawalny umging die Bezahlung der Geldbuße, indem er die FBK-Stiftung formal auflöste und auf eine neue juristische Person überführte (die Stiftung zur Verteidigung der Bürgerrechte, russisch abgekürzt: FZPG). Nach außen trat diese weiterhin als FBK auf.
  • Ebenfalls im Oktober 2019 wurde die Stiftung zum „ausländischen Agenten“ erklärt.

Was bedeutet die „Extremismus“-Einstufung?

Die Einordnung der Aktivitäten von Nawalnys Stiftung, die das Gericht nun ausgesprochen hat, geht über die bisherigen Repressalien deutlich hinaus. Grundlage für das Urteil ist das Gesetz zur „Entgegenwirkung extremistischer Aktivitäten“ vom Juli 2002, das bei der Definition von „extremistischem Handeln“ sehr weit geht. Verurteilt werden kann etwa, wer „soziale Feindseligkeiten“ anheizt oder Propaganda macht für „religiöse Exklusivität“.

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Das Extremismus-Brandmal bewirkt, dass die FBK-Stiftung in Russland durch ihre pure Existenz nun genauso gegen das Gesetz wie die Terrororganisationen „Islamischer Staat“ oder Al-Qaida und die Taliban verstößt.

Sie gilt nun als ebenso gefährlich wie der gefürchtete Skinhead Kirill Blinow und seine Bande aus der Großstadt Nischnij Nowgorod oder die Neonazi-Organisation MKU, die sich selbst als „Wahnsinniger Kult der Mörder“ bezeichnet und nach Angaben der russischen Strafverfolgungsbehörden in mehreren russischen Städten Massenmorde, Gift- und Bombenanschläge geplant hat. Nawalnys Stiftung wird auch auf eine Stufe mit der japanischen Aum-Sekte gestellt, die 1995 einen tödlichen Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn verübte und in Russland besonders aktiv ist.

Die vorgesehenen Strafen sind entsprechend hoch: Offiziellen Mitarbeitern in den Regionalbüros oder der Stiftung drohen nun zwei bis acht Jahre Haft. Auch wer Geld spenden sollte, steht mit einem Bein im Gefängnis.

Im schlimmsten Fall müssen alle Aktivisten, die Nawalnys Bewegung in irgendeiner Weise unterstützen, mit Sanktionen rechnen: „Freiwilligen, Sympathisanten oder denjenigen, die Flugblätter verteilen, droht eine Flut von Strafverfahren“, warnten FBK-Direktor Iwan Schdanow und Nawalny Stabschef Leonid Wolkow in einer gemeinsamen Erklärung auf der FBK-Webseite.

Die monströse Kriminalisierung begründen Staatsanwaltschaft und Gericht mit dem Vorwurf, Nawalnys Organisationen betrieben unter dem Deckmantel liberaler Parolen eine „Destabilisierung der sozialen und gesellschaftspolitischen Lage“.

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Ihr Ziel sei ein Verfassungsumsturz mittels einer „Farbrevolution“. Begründet wurde der Vorwurf von den Strafverfolgungsbehörden nicht, auch das Gericht entschied am Schluss hinter verschlossenen Türen.

Was auf Nawalnys Unterstützer zukommen könnte, wird durch den Fall der Zeugen Jehovas deutlich, die Russlands Verfassungsgericht 2017 als „extremistisch“ eingestuft hat. Seither wurde der Religionsgemeinschaft untersagt, ihre vorher bestehenden 395 Filialen im Land zu betreiben. 61 Mitglieder sitzen in einer Strafkolonie mit Haftstrafen zwischen zwei und sechs Jahren, weitere 33 im Hausarrest.

Bedeutet das das Aus für Nawalnys komplette politische Bewegung? Nach Auffassung von Tatjana Stanowaja, Direktorin der Politikberatungsfirma R.Politik, ist es zumindest ein schwerer Schlag gegen die Opposition: „Die FBK-Stiftung wird nicht mehr weiterarbeiten können“ schreibt sie in einer Analyse der Situation.

Etwas optimistischer bewertet sie die Lage der Regionalstäbe, obwohl diese ihre zentralen Koordinatoren verloren haben, die entweder im Gefängnis oder im Hausarrest sitzen (Nawalny), ins Ausland geflüchtet sind (Schdanow, Wolkow): „Weder ist die Proteststimmung verschwunden“, macht sie klar, „noch die oppositionellen Aktivisten.“ Eine aus Sicht des Kremls unerwünschte Nebenwirkung der Zerschlagung von Nawalnys zentraler Führungsstruktur könne sein, dass die Stäbe sich nun primär regionalen Themen zuwendeten:

„Das verstärkt möglicherweise Konflikte mit den örtlichen Gouverneuren von der kremlnahen Partei Einiges Russland“, glaubt Stanowaja. Es sei außerdem denkbar, dass Nawalnys Mitstreiter aus den Regionalbüros nun in die Parteien der erlaubten Opposition einträten und diese an der Basis radikalisierten: „So wächst in der Region unter Umständen die ohnehin vorhandene Unzufriedenheit mit den Führungsfiguren dieser Parteien, die vor dem Kreml immer nur buckeln.“

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