Urteil im Halle-Prozess: Einer ist schuldig – wir alle sind verantwortlich
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Der Attentäter Stephan Balliet.
© Quelle: Ronny Hartmann/dpa-Zentralbild/d
Berlin. Das Urteil gegen den Attentäter von Halle ist gerecht. Der 28-Jährige hat sich mit seiner Tat, mit seinem Hass gebrüstet – von der Liveübertragung des Anschlags bis zu seinen Auftritten im Gerichtssaal. Er grinste, wenn Nebenkläger von ihrem Leid berichteten. Er provozierte bis zur Volksverhetzung, wenn Experten über Antisemitismus sprachen. Er stellte sich stur wie ein verstocktes Kind, als er über seine Kontakte und mögliche Eingeweihte befragt wurde. Er versuchte, immer und immer wieder, sich die Bühne zu nehmen, die ihm ein öffentlicher Prozess bot – bis zum letzten Wort, in dem er vom „Bürgerkrieg“ faselte und den Holocaust leugnete, aber sonst nichts sagen wollte. Kein Wort der Reue, kein Wort der Menschlichkeit.
Er wird nun für viele Jahre, wahrscheinlich für sein ganzes Leben, hinter Gittern bleiben. Er wird vergessen werden.
In Erinnerung bleiben aber wird dieser Prozess – vor allem wegen der Worte und Anstrengungen der Nebenklägerinnen und Nebenkläger. Sie haben diesen Prozess geprägt, sie haben sich die Bühne genommen und sie dem Angeklagten damit verwehrt. Sie und ihre Anwältinnen und Anwälte wurden eine Gemeinschaft. Streckenweise gab es Applaus im Verhandlungssaal – unerhört eigentlich in einem deutschen Gericht.
„Sie haben sich mit den falschen Leuten angelegt“, sagte eine Synagogenbesucherin, direkt an ihn gewandt. „Sie haben nicht gewonnen, Sie haben auf ganzer Linie versagt“, sagt Ismet Tekin, damals Mitarbeiter, heute Betreiber des Kiez-Döners, in dem der Attentäter Kevin S. erschoss. „Entstanden ist noch mehr Liebe und Zusammenhalt“, sagt Tekin.
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Naomi Henkel-Gümbel, Ismet Tekin, Sabrina Slipchenko, Überlebende des Attentats, beim gemeinsamen Gedenken.
© Quelle: Debi Simon/Base Berlin
Und Max Privorozki, Vorsteher der Synagogengemeinde, sagte bereits zu Prozessbeginn: „Die vergangenen Jahre habe ich mir immer mehr Sorgen gemacht über unsere Zukunft in Deutschland, jetzt bin ich zuversichtlicher.” Er sprach von der Solidarität, von der Menschenkette zwischen den Anschlagsorten Synagoge und Döner-Imbiss, von der deutschen Gesellschaft, zu der die Gemeinde jetzt gehört – durch das Schlaglicht des Attentats.
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Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle, spricht in der Synagoge.
© Quelle: Sebastian Willnow/dpa-Zentralbil
Auch der Attentäter ist Teil dieser Gesellschaft. Er hat seiner Familie, seinem Umfeld immer wieder Kostproben seines Hasses gegeben. Er hat sich zurückgezogen, seinen Hass perfektioniert, seine Waffen gebaut. Unbemerkt, ungefördert kann das nicht geschehen sein. Hier konnte der Prozess keine Aufklärung leisten: Mutter, Vater und Schwester haben ihr Recht genutzt, die Aussage zu verweigern. Der frühere Freund der Schwester gab Einblicke: wie normal, wie unwidersprochen rechtsextremes Gedankengut war und ist.
In dieser Gesellschaft stand kein Polizeiauto vor der Synagoge am höchsten Feiertag Jom Kippur – weil im Polizeirevier gar nicht bekannt war, dass es diesen höchsten Feiertag gibt. Das hat sich in Halle geändert.
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Das Rabbinerpaar Jeremy Borovitz und Rebecca Blady.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Der Hass aber, er bleibt, er wabert durchs Netz, durch die Straßen, durch die Köpfe, durch die Gesellschaft. Ein Nebenkläger, Rabbi Jeremy Borovitz, zitierte in seinem abschließenden Statement den berühmten US-amerikanischen Rabbiner Abraham Joshua Heschel mit den Worten: „In einer freien Gesellschaft sind einige schuldig – aber alle tragen Verantwortung.” Und Borovitz ergänzte: „Ein weiteres Halle, ein weiteres Hanau können wir nur verhindern, wenn die guten und anständigen Menschen der deutschen Gesellschaft so etwas nicht noch einmal geschehen lassen.”
Der Attentäter ist 14 Monate nach seinem Anschlag verurteilt. Wir alle müssen weiterkämpfen, gegen den Hass und für das Leben.