Verfassungsschutz bereitet sich auf extremistische Proteste im Herbst vor
Ein Demonstrant mit einer russischen Fahne in Berlin. Auch bei Corona-Protesten, die vielerorts rechtsextrem gesteuert oder beeinflusst sind, spielen der russische Angriffskrieg und steigende Energiepreise bereits eine Rolle.
© Quelle: Felix Huesmann/RND
Berlin. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) bereitet sich auf mögliche Proteste von Extremisten gegen Inflation und steigende Energiepreise im Herbst vor. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine möglichen Auswirkungen in Deutschland „bergen grundsätzlich ein hohes Instrumentalisierungspotential für extremistische Spektren und staatliche Einflussakteure“, teilt das Bundesamt mit. Die Behörde beobachte, dass verschiedene Akteure diese Themen für ihre Mobilisierung nutzen wollen.
Um schnell auf Entwicklungen reagieren zu können, hat das BfV eine „phänomenbereichsübergreifende Sonderauswertung“ gegründet. In dieser Sondereinheit arbeiten Fachleute aus den verschiedenen Bereichen wie Rechts- und Linksextremismus, verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates und Spionageabwehr zusammen.
Keine Volksaufstände
In den vergangenen Wochen sprachen bereits mehrere Politikerinnen und auch Präsidenten von Landesverfassungsschutzämtern öffentlich über mögliche von Rechtsextremisten gesteuerte oder instrumentalisierte Energiepreis-Proteste im Herbst und Winter. Für viel Aufregung sorgte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), als sie – eher versehentlich – von möglichen Volksaufständen sprach. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte im Rahmen der Talkreihe „RND vor Ort“ zuletzt, sie rechne nicht mit gewalttätigen Protesten in Deutschland, und versuchte, die missglückte Äußerung ihrer Kabinettskollegin wieder einzufangen.
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„Nein, ich glaube nicht, dass es zu Volksaufständen und ähnlichem kommen wird“, sagte sie. Sie fügte hinzu: „Ich glaube nicht an Wutbürger und auch nicht an Gelbwesten-Proteste.“ Es sei lediglich „eine kleine Minderheit, die sehr radikal unterwegs ist“. Faeser forderte die Bürgerinnen und Bürger jedoch auf, genau hinzuschauen, mit wem sie auf die Straße gingen, und darauf zu achten, dass sie nicht etwa Aktivisten aus der „sehr rechten Ecke auf den Leim“ gingen.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte sich mit Äußerungen aber bislang zurückgehalten und legt nun zum ersten mal eine öffentliche Lageeinschätzung vor.
RND vor Ort: Die Highlights aus dem Talk mit Innenministerin Faeser
Bundesinnenministerin Nancy Faeser stellte sich bei der Polit-Talk-Veranstaltung „RND vor Ort“ in Potsdam den Fragen von Kristina Dunz und Henry Lohmar.
© Quelle: RND/TVN
Kein Problem mit friedlichen Protesten
Extremisten versuchten mit der Verbindung der Themen Inflation, Energie, Ukrainekrieg und Corona Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu gewinnen und für ihre jeweilige Agenda zu mobilisieren, heißt es von der Behörde. Die Größenordnung und das Mobilisierungspotenzial möglicher staatsfeindlicher Proteste sei derzeit jedoch nicht fundiert prognostizierbar.
Dem Verfassungsschutz gehe es auch nicht um alle Proteste, erklärte BfV-Präsident Thomas Haldenwang. „Friedliche Proteste und Demonstrationen – auch gegen Maßnahmen der Regierung – sind Ausdruck einer lebendigen Demokratie und werden durch die Verfassung ausdrücklich geschützt“, wird Haldenwang in der Mitteilung seiner Behörde zitiert. Es sei jedoch Aufgabe des Verfassungsschutzes zu beobachten, ob legitime Proteste von Demokratiefeinden gekapert würden.
Noch keine Anzeichen von „Massenkrawallen“
„Das BfV beobachtet, dass eine radikalisierte Minderheit aus Rechtsextremisten, Delegitimierern, Reichsbürgern und Verschwörungsgläubigen sich in Stellung bringt, um Themen wie den Krieg in der Ukraine, steigende Preise, Inflation und die Corona-Pandemie zu besetzen und zur Mobilisierung zu missbrauchen“, erklärte Haldenwang. Erschwerend komme hinzu, „dass Russland Instrumente wie Cyberangriffe und Desinformation als hybride Hebel einsetzt, um die Gesellschaft in Deutschland zu spalten.“ Es gebe bisher aber noch keine Anzeichen für flächendeckende staatsfeindliche Proteste oder gar gewalttätige Massenkrawalle.
Im rechtsextremen Parteienspektrum würden die wirtschaftlichen Auswirkungen des russischen Angriffskriegs einer „vermeintlichen Unfähigkeit der demokratischen Parteien zugeschrieben“, schreibt das BfV. Ziel sei es, das Vertrauen in Staat, Regierung und Demokratie zu unterminieren. Sichtbar sei das vor allem bei der rechtsextremen Regionalpartei „Freie Sachsen“, aber auch bei der AfD und neurechten Organisationen.
Auch die Szene der sogenannten Delegitimierer des Staates – so beschreibt der Verfassungsschutz ein Spektrum, das bei den Corona-Protesten sichtbar wurde und sich nach Sicht der Behörde nicht eindeutig links oder rechts verordnen lässt – versuchten, diese Themen zu besetzen. Nach der Lockerung von Corona-Schutzmaßnahmen habe sich die Szene auf die Suche nach neuen Themenfeldern begeben.
In der linksextremistischen Szene habe der Antimilitarismus seit Kriegsbeginn an Bedeutung geworden, schreibt das BfV. „Insbesondere Rüstungsunternehmen, aber auch die Bundeswehr und politische Parteien sind dabei im Fokus gewaltorientierter Linksextremisten“, heißt es. Es sei bereits zu ersten Sachbeschädigungen gekommen und es müsse mit Blockaden und Sabotageaktionen gerechnet werden. Auch die weitere Nutzung fossiler Energie spiele für die Szene eine große Rolle und es würde versucht, legitimen demokratischen Protest zu radikalisieren.
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„Der Westen muss alles auf die militärische Karte setzen“
Nach Ansicht des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk gibt es für Russlands Präsidenten Putin keine Deadline für ein Kriegsende. Berlin gibt leider immer noch nicht alles, was möglich wäre, sagt der Diplomat, der Ende September nach Kiew zurückkehrt.
Gezielte russische Staatspropaganda
Eine besondere Rolle kommt in den nächsten Monaten auch der Spionageabwehr des BfV zu. Russland nutze insbesondere Fragen der Energieversorgung Europas als „hybriden Hebel“, schreibt das Bundesamt, also als Angriffspunkt. „Mit der gezielten Verbreitung von Falschinformationen etwa zu Gasknappheit und Preissteigerungen wird von russischen Akteuren versucht, Angst vor einer möglicherweise existenzbedrohenden Energie- und Lebensmittelknappheit in Deutschland zu schüren“, heißt es.
Russische Propaganda werde im extremistischen Milieu voraussichtlich noch zunehmen und Verschwörungsnarrative befeuern, um einen Keil in die Gesellschaft zu treiben. Das BfV geht außerdem davon aus, dass die russischen Geheimdienste auch ihre politischen und militärischen Aufklärungsversuche in Deutschland weiter verstärken und anpassen werden.
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