Verkehrswende durch Corona: Der Radweg ist das Ziel
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Für Jahrzehnte war der Kottbusser Damm in Berlin-Kreuzberg ein Straße gewordenes Symbol der Fahrradfeindlichkeit. Wird die Improvisation aus Baken und Linien jetzt zum Musterbaustein einer Verkehrswende in Deutschland?
© Quelle: imago images/Hoch Zwei Stock/Angerer
Berlin. Frank Masurat steht ganz am Anfang des Wegs, eine der berüchtigtsten Strecken der deutschen Hauptstadt liegt vor ihm. Aber wenn Masurat, ein schlanker, großer Mann von 60 Jahren, schwarze Jeans, rot-gelb-grünes T-Shirt, über das spricht, was jetzt kommt, dann liegen Erleichterung und Siegesfreude in seiner Stimme.
“Bislang”, sagt er, “war diese Strecke ein einziger Albtraum.”
Der Kottbusser Damm in Berlin führt vom Hermannplatz im Süden Richtung Kottbusser Tor im Norden, er bildet die Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln. Eine breite Achse, drei Spuren in jede Richtung, breite, stets menschenvolle Gehwege, Geschäft an Geschäft. Fahrende Autos, parkende Autos, Paketboten, Taxis, Lieferverkehr, Baustellen. Bislang: kein Radweg.
Kottbusser Damm: Das Symbol der Fahrradfeindlichkeit
Wer sich dennoch auf zwei Rädern ohne Motor hier hindurch traute, für den glich die Fahrt einem Überlebenstraining mit ungewissem Ausgang. “Wer irgendwie konnte”, sagt Masurat, “der machte einen Bogen um diese Strecke.” Masurat allerdings macht jetzt keinen Bogen. Er setzt sich auf den Sattel und rollt los. “Absolut relaxt”, sagt er. “Großartig.” Der Grund für dieses neue Fahrgefühl ist eine lange Reihe von Baustellenbaken, die nun die rechte Spur vom Rest der Straße trennen, dazu gelbe durchgezogene Linien. Wo früher Autos parkten, haben seit März die Räder ihren eigenen Weg.
Für Jahrzehnte war der Kottbusser Damm ein Straße gewordenes Symbol der Fahrradfeindlichkeit. Wird die Improvisation aus Baken und Linien jetzt zum Musterbaustein einer Verkehrswende in Deutschland? Zum Vorbild für viele andere Städte?
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Eine “ideologisch aufgeladene Hauruckaktion” – oder ein großer Gewinn? Am Kottbusser Damm in Berlin wurde während des Lockdowns ein Pop-up-Radweg geschaffen – der nun dauerhaft bleiben soll.
© Quelle: Jaqueline Schulz
Als das Virus über die Welt kam, war der Gedanke in vielen Ländern ähnlich: Vielleicht könnte diese Pandemie ja auch eine Chance sein. Eine Gelegenheit zum Umsteuern. Die Welt könnte digitaler werden. Grüner. Und gab es ein passenderes Verkehrsmittel zur Krise als das Rad? Emissionsfrei, von Natur aus gesund, Ansteckungsrisiko gleich null – und mit seinem überschaubaren Radius wie gemacht für Zeiten, in denen weite Reisen ohnehin verdächtig sind.
Plötzlich setzen alle aufs Rad
Überall in Europa halfen Länder und Städte den Menschen nun aufs Rad. Italien legte eine Kaufprämie auf. Paris begründete ein ehrgeiziges Programm, das die französische Hauptstadt zu einer Fahrradmetropole machen wird, falls es denn komplett realisiert wird. Brüssel setzt gar auf die Umkehrung der Verhältnisse – und räumt Fahrradfahrern und Fußgängern in der gesamten Innenstadt pauschal Vorrang ein.
Wenn man bedenkt, was jahrelang alles nicht geschah und für unmöglich erklärt wurde, wirkt alles das wie ein kleines Radwunder. Und in Deutschland? Erwies sich zumindest eines als unnötig: eine Radkaufprämie. Seit die Radgeschäfte nach dem Corona-Lockdown wieder öffnen durften, werden sie von den Kunden regelrecht bestürmt.
Aber folgt dem Kaufboom nun auch ein Fahrboom? Wandern die Räder nach den ersten fünf Corona-Ausflügen wieder in den Keller? Oder nutzen es die Menschen auch, wenn sie aus dem Homeoffice wieder ins Büro wechseln?
Es ist jedenfalls kein Geheimnis, unter welchen Umständen sich Menschen aufs Rad setzen – und unter welchen nicht. Da geht es nicht ums Wetter und auch nicht um die Länge. Das Wichtigste ist die Sicherheit. Wer sich nicht sicher fühlt, steigt nicht aufs Rad.
Oder er tut künftig viel dafür, dass es sicherer wird. Das ist die andere Möglichkeit.
Endlich passiert etwas
Dass Frank Masurat, Projektmanager bei der Lufthansa, zum Radfahrer wurde, ist gut sieben Jahre her. Bis dahin war er in der Luft so viel unterwegs, dass er die internationalen Flughäfen besser kannte als die eigene Stadt. Jetzt wollte er sein Leben ändern – und machte auf den Berliner Straßen eine verstörende Entdeckung: “Ich hatte damals fast jede Woche einen Beinaheunfall. Und das wollte ich ändern.”
Der Manager Masurat ging in den Vorstand des Berliner ADFC, des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs, 2016 kämpfte er für den Volksentscheid Rad und für das Mobilitätsgesetz, das aus dem Radentwicklungsland Berlin eine Modellstadt machen sollte.
“Verwirklicht wurde seitdem enttäuschend wenig”, sagt Masurat. “Aber das hier”, fügt er euphorisch hinzu, während er den Kottbusser Damm hinauffährt, “ist das erste Mal, dass auf mehreren Kilometern wirklich auf der Straße etwas passiert.” Das Mobilitätsgesetz werde hier endlich mal in der Geschwindigkeit umgesetzt, die nötig sei.
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“Das erste Mal, dass wirklich etwas passiert”: Lufthansa-Manager Frank Masurat ist zum Radaktivisten geworden, weil er sich auf den Berliner Straßen bedroht fühlte.
© Quelle: Jaqueline Schulz
Wobei auf der Straße tatsächlich viel passiert. Links rollen die Autos langsam, dicht an dicht. Auf der Radspur rollen die Räder, fast ebenso dicht an dicht. Nebeneinander zu fahren ist unmöglich, weil stets jemand überholen möchte. Und wo die Baken nicht eng genug stehen, an der Baustelle vor dem Reformhaus zum Beispiel, steht dann ein Opel, Münchner Kennzeichen, auf dem Radweg. Weswegen die Radfahrer einen Schwenk hinüber auf die Autospur machen müssen.
“Ein Zehnjähriger sollte den Radweg sicher benutzen können”
“Der Maßstab für einen sicheren Radweg”, sagt Ragnhild Sörensen von der Initiative Changing Cities, einer der treibenden Kräfte hinter den Berliner Pop-up-Radwegen, “ist, dass ihn ein Zehnjähriger allein gefahrlos benutzen kann.” Es sollte allerdings, kann man nach ein paar Fahrten sagen, am Kottbusser Damm derzeit schon ein recht wacher Zehnjähriger sein.
An einem anderen Corona-Radweg gab es in der Woche zuvor einen tödlichen Unfall, ein Rechtsabbieger hatte eine Frau übersehen. Ob Pop-up-Radwege sicher sind, lasse sich pauschal nicht beantworten, erklärt eine Sprecherin des Deutschen Verkehrssicherheitsrates. Es komme auf den Einzelfall an.
Berlin ist nun nicht die einzige deutsche Stadt, die im Pandemie-Ausnahmezustand neue Radwege hat aufpoppen lassen. Es gibt sie auch in Stuttgart, München und Düsseldorf. Dort aber sollen sie im Herbst wieder verschwinden, in Berlin hingegen sollen sie bleiben. Nirgends sind es auch so viele wie in der Hauptstadt, immerhin 20 Kilometer. Und in Berlin wiederum gibt es nirgends so viele wie im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Wenn die Pop-up-Radwege eine kleine Revolution beginnen sollen, dann tun sie dies jedenfalls auf sehr schmalem Raum. Warum gerade hier?
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Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne)hält die Ausweisung neuer Radwege zulasten des Autoverkehrs auch für einen Kulturkampf.
© Quelle: Jaqueline Schulz
Zum Gespräch vor dem Kreuzberger Rathaus rollt Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann, 56, von den Grünen auf dem Rad vor, einem E-Bike. Gerade komme sie aus Friedrichshain, sagt sie, alle Termine mache sie mit dem Rad. Alle? “Alle!” Einen Dienstwagen hat sie nicht.
Kulturkampf um die Straße
Herrmann nimmt den Radhelm ab und erzählt von dem rauen Ton, den sie von Radaktivisten normalerweise gewohnt ist. “Diesmal haben sich alle bedankt.” Die Arbeiter, die die Linien aufgemalt haben, hätten sogar Blumen bekommen. “Das Rad ist der Gewinner von Corona”, sagt sie und schwärmt von “der Ruhe, die Leute nicht so schnell vergessen werden”. Rechtlich sei der Weg eine “Baustellenanordnung”, geplant war der Weg seit Langem, die Pandemie hätte es für die Umsetzung juristisch gar nicht gebraucht, sondern lediglich ideell, als Anstoß.
So, versichert sie, werde es mit den Wegen nun weitergehen. Dies sei auch ein “Kulturkampf, da darf man nicht so zartbesaitet sein”. Und dieser Kulturkampf, wenn man ihn denn so nennen will, ist damit jetzt wohl eröffnet.
In einer Umfrage sagten 94 Prozent der Radfahrer, sie fänden die neuen Radwege gut – aber nur 11 Prozent der Autofahrer.
Und so klingt Volker Krane, Vorstand des Berliner ADAC, am Telefon zunächst noch recht versöhnlich, wenn er zunächst von einem “gewissen Trend vom Auto zum Rad” spricht und davon, dass sich auch ein Teil der eigenen Mitglieder wünsche, dass mehr für den Radverkehr getan wird. Von einer “intelligenten Verkehrssteuerung” spricht er dann, “intelligentem Parken” und einem “intelligenten Pendlersystem”, und es ist schon klar, dass er die Corona-Radwege für das Gegenteil hält, für ziemlich unintelligent. Eine “ideologisch aufgeladene Hauruckaktion”, so nennt er sie.
Nicht alle freuen sich über den neuen Radweg
Hikmet Uzun dagegen ist sicher kein Kulturkämpfer, aber auch er ist mit dem neuen Weg nicht glücklich. Oder zumindest mit dem, was er bewirkt. Uzun hat ein Geschäft für Haushaltswaren nahe dem Kottbusser Tor, elf Angestellte, Waschmaschinen, Kühlschränke, solche Sachen. Doch dort, wo früher die Autos parkten, fahren jetzt die Räder. Und dort, wo früher seine Lieferanten und die Kunden hielten, in zweiter Reihe, ist jetzt zwar ein Parkverbot zum Be- und Entladen, das die Anwohner aber zum Dauerparken nutzen. “Das ist eine Katastrophe”, sagt Uzun, er habe schon ein weiteres Lager in einer Querstraße angemietet, “alles zusätzliche Kosten”.
Und Jörg Fischer vom Fahrradladen nebenan, der Radspannerei, sagt, das Ordnungsamt müsse eben das Parkverbot kontrollieren, dann wäre alles gelöst. “Es wird leider nicht durchgegriffen”, sagt er, und dass ein Kreuzberger Fahrradhändler mit Hambacher-Forst-Solidaritätsplakat am Tresen mehr Polizei vor seiner Tür wünscht, ist schon bemerkenswert.
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Hikmet Uzun verkauft in seinem Geschäft am Kottbusser Damm unter anderem Waschmaschinen. Dass Kunden vor seinem Laden keine Parkplätze mehr finden, hält er für eine “Katastrophe”.
© Quelle: Jaqueline Schulz
Zumindest das klingt alles nicht unlösbar. Vielleicht erklärt das auch die Zuversicht von Andreas Knie. Knie ist Soziologe und Mobilitätsforscher, Professor am Wissenschaftszentrum Berlin, dem WZB, und als Anwohner des Kottbusser Damms in einer selten glücklichen Lage: Er kann von seinem Wohnzimmerfenster aus auf eines der interessantesten verkehrspolitischen Experimente des Landes blicken.
Fahrradboom? Man muss auf die Zahlen schauen
Lauter sei es geworden, sagt er, weil die Rettungswagen auf der einen verbliebenen Spur nun immer die ganze Zeit das Horn anließen. Und den großen Corona-Fahrradboom sehe er bislang auch noch nicht. Im Mai jedenfalls hatte das Rad einen Anteil von 10 Prozent, fand das WZB heraus, sogar etwas weniger als im Mai des Vorjahres. Fahrradboom? “Man muss schon auf die Zahlen schauen”, sagt Knie.
Allerdings kann Knie auch aus seinem Fenster schauen, und was er da sieht, stimmt ihn zuversichtlich. Er kennt ja sein Viertel, seit 1985 wohnt er hier. ”Das hier ist nicht Prenzlauer Berg oder Charlottenburg, das hier ist ein Hardcore-Feld”, sagt Knie. Keine Straße also, in der die akademische Mittelschicht ihre Kinder morgens ins Lastenrad bittet.
Hier eine ganze Spur den Autos zu nehmen und den Rädern zu geben, “das ist ein Meilenstein in der Berliner Verkehrsgeschichte, da lege ich mich jetzt mal fest”, sagt Knie.
Und dann blickt er auf den Strom der Radfahrer, auf diesen Weg, der mit der Pandemie gekommen ist – und der in diesem Moment so wirkt, als wäre er schon immer da gewesen.