Virologe Streeck: Booster gegen vierte Welle könnte sich als „trügerisch“ erweisen – Israel als falsches Vorbild?
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Der Bonner Virologe Hendrik Streeck kritisiert, dass die kostenlosen Corona-Tests abgeschafft wurden.
© Quelle: Federico Gambarini/dpa
Die Corona-Fallzahlen haben zuletzt ein neues Rekordhoch erreicht. Doch gleichzeitig stagniert die Zahl der Impfungen und alle Hoffnung liegt auf der Boosterung der vulnerablen älteren Generation. Doch der Virologe Hendrik Streeck warnt im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), dass sich diese Hoffnung als trügerisch erweisen könnte. Streeck ist Direktor am Institut für Virologie des Universitätsklinikums in Bonn.
Herr Streeck, der Epidemiologe und SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach blickt besorgt auf Weihnachten. Sie auch?
Auch ich sehe mit großer Sorge auf die stark steigenden Infektionszahlen. Besonders beunruhigt mich, dass wir das Infektionsgeschehen seit Abschaffung der kostenlosen Tests nur noch sehr schlecht erfassen. Ich rechne mit einer enormen Dunkelziffer. Das Infektionsgeschehen kann sich unter dem Radar sehr schnell ausbreiten. Ob es an Weihnachten Kontaktbeschränkungen gibt oder nur die Empfehlung einer Kontaktreduzierung, müssen Politiker entscheiden und verantworten. Ich gehe aber davon aus, dass es ein Gebot geben wird, besonders vorsichtig bei Treffen an Weihnachten zu sein und möglichst wenige Kontakte zu haben.
Von Corona-Tests bis Booster-Impfung: Was hilft gegen die Winterwelle?
Sollte die Politik jetzt schnell wieder kostenlose Tests anbieten, gerade auch, um Weihnachten abzusichern?
Ja, wir brauchen unbedingt wieder die kostenlosen Tests. Damit können wir auch nicht bis Weihnachten warten. Denn wir müssen einfach viel, viel mehr testen, um zu verstehen, wie sich das Infektionsgeschehen entwickelt. Nur so können wir früh die Infizierten herausfischen und eine unkontrollierte Verbreitung des Coronavirus verhindern. Wir brauchen schlicht mehr Daten, und das Testen kann uns die liefern.
Gegen die vierte Welle gilt der Booster als wichtigstes Instrument, Vorbild ist Israel.
Der Booster kann den Anteil an Impfdurchbrüchen reduzieren. Das ist richtig. Meine Sorge aber ist, dass nicht der Booster für das Brechen der dritten Welle in Israel verantwortlich war. Denn genau vor einem Jahr hatte Israel ebenfalls sehr niedrige Fallzahlen, doch im Dezember und Januar nahm die Pandemie dort plötzlich extrem an Fahrt auf.
„Die Hoffnung auf den Booster als Lösung gegen die vierte Welle könnte sich als trügerisch erweisen.“
Hendrik Streeck,
Direktor des Instituts für Virologie an der Universitätsklinik Bonn
Ich fürchte, dass dies jetzt wieder passiert und nicht der Booster, sondern ein bisher unbekannter Faktor die Welle in Israel gebrochen hat. Für uns in Deutschland heißt das: Die Hoffnung auf den Booster als Lösung gegen die vierte Welle könnte sich als trügerisch erweisen. Die Stiko empfiehlt derzeit eine Boosterung für Individuen mit erhöhtem Risiko für einen schweren Verlauf. Sie berät derzeit, ob eine Ausweitung der Empfehlung auf die Gesamtbevölkerung notwendig ist. Ich sehe es als wichtig an, diese Entscheidung abzuwarten. Ich habe da volles Vertrauen in die Stiko.
Welche weiteren Maßnahmen sind gegen die Corona-Welle jetzt nötig?
Die vulnerablen Gruppen müssen besser geschützt werden. Deshalb brauchen wir jetzt schnell die Booster-Impfung für ältere Menschen. Denn was uns Studien aus Israel auch gezeigt haben: Der Booster wirkt und kann schwere Verläufe verhindern. In Alten- und Pflegeheimen müssen systematisch Bewohner und Mitarbeiter dreimal in der Woche getestet werden.
„Wenn Ungeimpfte am Sozialleben nicht teilnehmen dürfen, organisieren sie sich zum Beispiel Feiern zu Hause. Dort lässt sich das Infektionsgeschehen dann überhaupt nicht mehr kontrollieren.“
Hendrik Streeck,
Direktor des Instituts für Virologie an der Universitätsklinik Bonn
Die am Freitag beschlossene Testpflicht für alle Besucher in Pflegeheimen, ob geimpft oder nicht, ist richtig und wichtig. Denn 2G reicht nicht mehr aus, weil sich auch Geimpfte infizieren können. Deshalb müssen sich aber auch geimpfte Bewohner und das Pflegepersonal regelmäßig testen lassen. Auch Veranstaltungen sollten wir mit zusätzlichen Tests für alle absichern.
Dunkelziffer bei Impfdurchbrüchen
Dass sich auch Geimpfte immer häufiger anstecken, zeigt auch das RKI: Fast 150.000 Impfdurchbrüche sind bereits registriert. Unterschätzen wir diese Dynamik?
Wir unterschätzen massiv die Dunkelziffer bei den Impfdurchbrüchen. Das große Problem ist, dass sich Geimpfte im Normalfall überhaupt nicht mehr testen lassen. Nur bei Symptomen machen Geimpfte einen Test, doch die vielen asymptomatischen Infektionen bleiben unentdeckt. Aber die Gefahr ist real, wie immer wieder Corona-Ausbrüche bei 2G-Veranstaltungen zeigen, zum Beispiel in Provincetown im Juli oder auch in Münster oder im Berliner Berghain.
Viele Menschen wiegen sich also in falscher Sicherheit?
Ja, viele geimpfte Menschen haben das Gefühl, sie seien nicht mehr Teil der Pandemie und es wäre nur noch eine Pandemie der Ungeimpften. Doch das ist falsch. Für Geimpfte ist das Virus weniger gefährlich, aber die Pandemie machen wir alle durch – ob geimpft oder ungeimpft.
Die Gesundheitsminister der Länder haben sich darauf verständigt, in Regionen mit besonders hohen Corona-Fallzahlen 2G-Regeln einzuführen. Ist das der richtige Schritt?
Bei 2G-Veranstaltungen gibt es mehrere Probleme: Die Geimpften haben das Gefühl, sie sind nicht mehr Teil der Pandemie, und verhalten sich auch entsprechend risikoreich. Sie haben zahlreiche Kontakte und eine erhöhte Mobilität.
Das zweite Problem sind die Ungeimpften, die ausgeschlossen werden und sich noch weniger testen lassen, unter anderem auch deswegen, weil Tests jetzt kostenpflichtig sind und weniger Testzentren existieren. Bis vor kurzer Zeit konnte man sich noch an jeder Ecke testen lassen, zum Beispiel noch kurz vor einem Restaurant- oder Barbesuch. Das ist jetzt vorbei. Dadurch kann es folglich zu mehr unkontrollierten Ausbrüchen kommen.
Außerdem schließt 2G nicht automatisch die Impflücke. Wenn Ungeimpfte am Sozialleben nicht teilnehmen dürfen, organisieren sie sich zum Beispiel Feiern zu Hause. Dort lässt sich das Infektionsgeschehen dann überhaupt nicht mehr kontrollieren.
Ungeimpfte lassen sich derzeit aber nur noch selten impfen. Die Impfquote stagniert schon länger. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Es fehlt an effektiver Aufklärung über die Impfstoffe und Impfungen. Viele der Ungeimpften haben Sorgen und Ängste. Ich erhalte jeden Tag mehr als ein Dutzend E-Mails von Ungeimpften, die sich noch unsicher sind. Das liegt an vielen Falschinformationen über Impfstoffe, denen wir mit sachlich fundierter Aufklärung entgegentreten müssen.
Gleichzeitig gibt es mit Regeneron und Molnupiravir neue gute Behandlungsmöglichkeiten. Ist das ein Durchbruch, der uns gegen die Winterwelle hilft?
Als Durchbruch würde ich dies nicht bezeichnen, aber es sind zusätzliche Werkzeuge in der Pandemiebekämpfung. Diese Präparate müssen aber sehr früh gegeben werden. Das ist eine Chance, wenn regelmäßige Tests in Pflegeheimen stattfinden und Infektionen früh erkannt werden. Denn so lassen sich dort schwere Krankheitsverläufe verhindern.