Vorsitzender der Türkischen Gemeinde: „Heute geht es um Partizipation“
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Gökay Sofuoglu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland.
© Quelle: Sebastian Gollnow/dpa
Berlin. Herr Sofuoglu, das deutsch-türkische Anwerbeabkommen wurde am Samstag vor 60 Jahren unterzeichnet. Welche Bedeutung hat es aus Ihrer Sicht?
Das Abkommen hat für mich eine große Bedeutung, weil ich 41 dieser 60 Jahre miterlebt habe. Ich bin 1980 hergekommen, allerdings aus politischen Gründen, drei Monate vor dem Militärputsch. Das hat mein Leben verändert, und zwar zum Positiven.
War Ihnen damals klar, dass Sie so lange bleiben würden?
Das war nicht klar. Nach dem Putsch war es dann klar, denn ich konnte nicht in die Türkei zurück. Aber das hat mich eher motiviert. Ich habe die Sprache gelernt, studiert und die Mutter meiner Söhne kennengelernt. Jetzt ist für mich die Entscheidung längst gefallen, dass ich auch das Alter hier verbringe. Je länger man diese Entscheidung hinauszögert, desto schwieriger wird es, zu partizipieren.
Das wäre auch Ihr Rat an andere: sich bald zu entscheiden?
Ja. Faktisch ist die Entscheidung auch oft längst gefallen. Viele wollen hier beerdigt werden. Da geht es nur noch um das Emotionale. Die überwältigende Mehrheit der Menschen wird bleiben.
Die Aufenthaltsdauer war zunächst auf maximal zwei Jahre befristet. Dennoch leben heute etwa drei Millionen türkischstämmige Menschen in Deutschland. War das Abkommen ein Irrtum?
Das Abkommen war kein Irrtum, aber alles, was damit zusammenhängt. Für die deutsche und die türkische Seite ging es um Arbeitskräfte. Nur hat man die Zukunft falsch eingeschätzt.
Von dem Schriftsteller Max Frisch stammt der Satz: „Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und es sind Menschen gekommen.“ Trifft das den Kern?
Ja. Die europäischen Länder, die damals Arbeitskräfte angeworben haben, haben keine Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sie bleiben können. Diese Menschen haben unter sehr schweren Bedingungen gelebt und gearbeitet. Da ist einiges schiefgelaufen. Man hat nicht gesehen, welche Bedürfnisse die Menschen haben, also etwa nach Gebetsräumen. Integration wurde zunächst dadurch verhindert, dass viele Leute in ihren Betrieben gewohnt haben.
Wie steht es heute um die Integration?
Heute sind wir viel weiter. Wir reden nicht mehr über Integration, sondern über Partizipation. Und wir haben jetzt mit Aydan Özoguz zum Beispiel eine türkischstämmige Vizepräsidentin des Bundestages. Aber wir sind noch nicht so weit, dass wir sagen können, wir sind alle gleichberechtigt. Da ist noch Luft nach oben.
Würden Sie sich wünschen, dass Cem Özdemir Minister wird?
Ja. Cem Özdemir könnte hervorragend Verkehrsminister werden; er war ja Verkehrsausschuss-Vorsitzender. Er könnte auch andere Ämter übernehmen. Mir ist wichtig, dass Migranten oder Türkeistämmige nicht nur Migrantenthemen übernehmen, sondern andere Themen und Ämter ebenfalls. So ist Muhterem Aras Präsidentin des Landtages in Baden-Württemberg, Danyal Bayaz ist Finanzminister. Dadurch normalisiert sich das Bild des Migranten, und die Migranten selbst bekommen andere Vorbilder.
Anders als vor 60 Jahren kommen viele Türken heute nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus politischen Gründen zu uns. Zugleich sitzen Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft in türkischen Gefängnissen. Wie traurig ist das?
Das ist natürlich traurig. Das muss sich ändern.
Umgekehrt fühlen sich nicht wenige Deutsch-Türken dem türkischen Präsident Erdogan näher als der deutschen Demokratie. Besorgt Sie das?
Wenn Wahlen stattfinden und die Zeit der Polarisierung stark ist, gibt es viel Schwarz-Weiß, und mehr Menschen orientieren sich an Erdogan. Trotzdem fühlen sich türkeistämmige Menschen der deutschen Demokratie zunehmend verbunden. Dafür muss die deutsche Politik noch mehr tun. Sie muss den Menschen mehr Teilhabechancen bieten. Ich denke, dass das mit der Ampelkoalition geschieht – etwa durch Erleichterungen beim Staatsbürgerschaftsrecht oder beim kommunalen Wahlrecht. Teilhabe schafft Integration.
Und damit auch mehr Loyalität zur deutschen Demokratie?
Je stabiler die Teilhabepolitik der Bundesregierung ist, desto stabiler fühlen sich die Menschen hier. Sie lassen sich dann von außen nichts mehr sagen.