Warum es in Frankreich so viele Prozesse gegen Spitzenpolitiker gibt
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/BK6JGBUBTJHSVNFCQCFLI3TBUM.jpg)
Ob der ehemalige Präsident Jacques Chirac (✝2019, links), Ex-Premier Edouard Balladur oder Nicolas Sarkozy, der 2007 bis 2012 in Frankreich regierte, sie alle eint eines: Sie müssen sich vor Gericht verantworten, weil sie dem Vorwurf der Korruption ausgesetzt sind.
© Quelle: imago images/IP3press/Imaginechina-Tuchong/dpa/RND Montage Behrens
Paris. In Frankreich folgt ein Prozess gegen Spitzenpolitiker dem anderen. Erst vor zwei Wochen hatte die Weltpresse gespannt im Pariser Justizpalast beobachtet, wie ein Richter zum ersten Mal einen ehemaligen französischen Präsidenten, nämlich Nicolas Sarkozy, wegen Korruption verurteilte.
An diesem Mittwoch läuft bereits der nächste Prozess gegen ihn an. Diesmal soll er beim Präsidentschaftswahlkampf 2012 – den er übrigens gegen seinen Nachfolger François Hollande verlor – mehr ausgegeben haben, als er laut den Wahlkampfregeln durfte. Es sind nur zwei von über einem halben Dutzend Justizaffären, in die Sarkozy verstrickt ist.
Auch andere französische Spitzenpolitiker sitzen hier regelmäßig auf der Anklagebank – wie kürzlich der ehemalige Premier Edouard Balladur und früher schon Budgetminister Jérôme Cahuzac oder auch der inzwischen verstorbene Ex-Präsident Jacques Chirac. Ein Grund dafür sind Frankreichs Transparenzregeln für Politiker, die man in den vergangenen Jahren stark verschärft hat. Doch politisch müssen die ehemaligen oder aktuellen Amtsträger für ihre Verurteilungen nur selten geradestehen.
Frankreich auf Platz 23 beim Korruptionsindex
Franzosen sehen sich selbst gern als heißblütige Latinos – keinesfalls wollen sie mit den steifen Deutschen oder, schlimmer noch, den kühlen Nordeuropäern auf eine Stufe gestellt werden. Aber in gewisser Hinsicht versuchen sie dann doch wieder, ihren vermeintlich weniger leidenschaftlichen Nachbarn jenseits des Rheins zu ähneln – die sind nämlich im Korruptionsindex von Transparency International auf Platz neun im Vergleich zum mageren Platz 23 der Franzosen.
Während in der Vergangenheit Frankreich eher leger mit korruptem Gemauschel seiner Politiker umging, schlägt das Land seit einigen Jahren einen härteren Ton an. 2013 etwa gründete man eine unabhängige Behörde für die Transparenz des öffentlichen Lebens. Alle Minister müssen inzwischen mögliche Interessenkonflikte deklarieren und ihr Vermögen offenlegen.
„Das ist viel strikter als in Deutschland“, sagt Yoan Vilain, Jurist und Leiter der Abteilung Internationales an der Humboldt-Universität in Berlin. Er hat für den französischen Senat eine vergleichende Studie über die Kontrollmechanismen für Politiker in beiden Ländern unternommen. „Es ist kein Wunder, dass so viele französische Politiker vor Gericht kommen – für mich ist dies das Ende einer Ära. Was man früher noch hat durchgehen lassen, geht jetzt nicht mehr, weil die Regeln geändert wurden.“
Experte: Franzosen nehmen Prozesse gegen Politiker weniger ernst
Strengere Regeln seien allerdings auch nötig, meint er. „Frankreich ist mit seinem Präsidialsystem viel zentralisierter als das föderale Deutschland. Politiker haben so mehr Macht und kommen eher in Versuchung, korrupt zu werden – noch dazu, weil es hier eine Elite gibt, die oft unter sich bleibt. Die Prozesse gegen Politiker sind gleichzeitig oft viel aufsehenerregender, weil es sich eben um nationale Politiker und nicht zum Beispiel den Ministerpräsidenten eines Bundeslandes handelt, den jenseits der Grenzen keiner kennt“, erklärt er.
Aber für Julien Dubarry, Professor für französisches Zivilrecht an der Universität des Saarlands, gibt es noch einen anderen Grund, warum man Politiker hier so häufig vor den Richter zerrt: die französische Mentalität. „In Frankreich ist doch alles viel konfliktreicher als in Deutschland“, sagt er. „Da passiert es häufig, in der Privatwirtschaft, aber auch in der Politik, dass man den Widersacher verklagt, um ihm zu schaden.“
Viele nutzten die Justiz also für ihre Zwecke. Nur seien sich die Franzosen dieser Instrumentalisierung auch bewusst. Deswegen nähmen sie Prozesse gegen Politiker weniger ernst. Es ist hierzulande durchaus normal, verurteilte Politiker wiederzuwählen.
Spekulationen um neue Sarkozy-Kandidatur – vor der jüngsten Verurteilung
Selbst bei Sarkozy mit seinen multiplen Justizaffären hatte man bis vor seiner jüngsten Verurteilung noch spekuliert, ob er als Kandidat für die nächste Präsidentschaftswahl wieder antreten würde – obwohl bei ihm noch mehrere andere Verfahren anhängig sind.
Das liegt auch an einem seit der Französischen Revolution verankerten Grundverständnis, dass die Justiz der Demokratie entgegenwirke – obwohl ja Politiker gewählt sind, Richter jedoch nicht. „Damals haben sich die Gerichte – zusammengesetzt aus Mitgliedern des Adels und des Klerus – einer durchaus gerechten Steuerreform von Ludwig XVI. widersetzt“, erklärt Philippe Cossalter, Professor für französisches öffentliches Recht an der Universität des Saarlands. „1790 hat das Parlament deshalb verordnet, dass die Justiz nicht mehr der Verwaltung in die Quere kommen dürfe.“
Wenn in Deutschland wie 2011 der ehemalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg zurücktreten muss, weil er mindestens ein Fünftel seiner Doktorarbeit plagiiert hatte, sorgt das somit bei Franzosen für Belustigung. Selbst Dubarry nennt ein solches Vorgehen ein „Übermaß an Tugend“. Im Herzen bleiben die Franzosen wohl doch Latinos – trotz ihrer zahlreichen Transparenzregeln.