Was Israels höchster Corona-Bekämpfer Deutschland in der vierten Welle rät

Benjamin Netanjahu, ehemaliger Minister­präsident von Israel, hat sich als Erster gegen Covid-19 impfen lassen. Es folgten eine rasante Impf­kampagne und die Erkenntnis: Zwei Spritzen reichen nicht.

Benjamin Netanjahu, ehemaliger Minister­präsident von Israel, hat sich als Erster gegen Covid-19 impfen lassen. Es folgten eine rasante Impf­kampagne und die Erkenntnis: Zwei Spritzen reichen nicht.

Berlin. Hierzulande würde man einen wie ihn als Macher bezeichnen, als Entscheider, das Feuilleton würde es wohl wagen, ihn einen Guru zu nennen. Ronni Gamzu war der erste Covid-Zar von Israel.

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Bitte was?

Die begriffliche Hilflosigkeit für das, was Gamzu macht, drückt sich besonders plakativ in der gelegentlichen Bezeichnung als Corona-Beauftragten aus, denn sie wird seiner Rolle am allerwenigsten gerecht: Gamzu hat Lockdowns ausgerufen und beendet, hat Impfstoff eingekauft und verteilt. Er wurde von der israelischen Regierung im April 2020 gebeten, den Kampf gegen das Virus zu übernehmen. Und hat das dann gemacht.

„Ich trage das nicht stolz vor mir her, aber wir retten Leben“

„Nach der ersten Welle gab es kaum noch Vertrauen in die politische Führung“, sagt Gamzu heute. „Die Regierung hat nach einem Projektmanager gesucht, nach jemandem, der die Heraus­forderung professionell annimmt.“ Er sollte es selbst werden.

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Der israelische Professor und ehemalige „Covid-Zar“ Ronni Gamzu rät der Ständigen Impf­kommission zu einem Umdenken der Empfehlung für Booster-Impfungen.

Der israelische Professor und ehemalige „Covid-Zar“ Ronni Gamzu rät der Ständigen Impf­kommission zu einem Umdenken der Empfehlung für Booster-Impfungen.

Sein fester Blick verlangt dem Gegenüber alles an Aufmerksamkeit ab. „Ich trage das nicht stolz vor mir her, aber es ist wichtig, dass die Bevölkerung versteht, warum wir Entscheidungen treffen: Wir retten Leben“, sagt er: „Das ist es, was auf dem Spiel steht.“

Und so habe er auch Impfstoffe sehr früh in großen Mengen eingekauft. 50 Dollar pro Dosis, war das nicht sehr teuer, fragt er sich und antwortet selbst: „Ja, aber wir retten damit Leben, also ist der Impfstoff sein Geld wert.“ Seine Entschlossenheit hat wesentlich dazu beigetragen, dass Israel als erstes Land überhaupt in weiten Teilen durchgeimpft war. Seitdem ist Israel im Vergleich mit Deutschland immer einige Monate voraus, was Entwicklungen dieser Pandemie betrifft – im Guten wie im Schlechten.

Deutschland habe den großen Vorteil, in die Zukunft schauen zu können

Die vierte Welle, die Deutschland trotz der Impfungen gerade mit voller Wucht erfasst, kennt Gamzu längst. Israel meldete am 15. September eine Inzidenz von 878, fast ein Prozent der Bevölkerung hat sich in der Woche zuvor mit dem Coronavirus infiziert. Dann und erst dann hat man die Kurve bekommen. Mit Booster-Impfungen. „Wir sollten uns nicht länger einreden, wir wären mit zwei Dosen vollgeimpft“, sagt Gamzu: „Das stimmt nach sechs Monaten einfach nicht mehr. Der Schutz vor Infektionen wird immer kleiner und wir müssen ihn erneuern, so einfach ist das.“ Über die Lage in Deutschland sagt er: „Der Anstieg ist kein bisschen überraschend, im Gegenteil: Das ist logisch.“ Deutschland habe den großen Vorteil, in die Zukunft schauen zu können.

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Für ihn ist klar: „Auch die Stiko muss mutiger sein.“ Sie müsste die Booster-Impfung für alle Erwachsenen empfehlen, meint Gamzu. Wissenschaftlich gebe es keinen Zweifel daran, dass eine dritte Impfung für alle Erwachsenen sinnvoll sei. „Die Stiko muss eine Führungsrolle einnehmen und die derzeitige mediale Verwirrung der Menschen stoppen.“

In Israel leben überproportional viele Menschen, die eine Corona-Impfung aus religiösen Gründen ablehnen. Vertrauen kann man nur mit Professionalität und Expertise bilden, meint Gamzu. „Ich habe im Dezember, als es in den USA die erste Notfall­zulassung gab, gesagt: Dieser Impfstoff wird uns retten, ich vertraue ihm. Als Gesundheits­minister kann man so etwas nicht einfach sagen, man muss unabhängig und nur an der Problem­lösung interessiert sein.“

„Viele Politiker sind ihren Aufgaben in dieser Krise nicht gewachsen“

Ohne einen Covid-Zaren oder eine vergleichbare Position – also einen unabhängigen Experten, der sich auskennt und professionelle Entscheidungen trifft – könne man diese Pandemie nicht gut bekämpfen, meint Gamzu. „Viele Politiker sind ihren Aufgaben in dieser Krise nicht gewachsen, das gilt auch für Deutschland. Der Regierungs­wechsel führt in der Corona-Politik gerade zu großen Problemen, das wäre absolut vermeidbar gewesen.“

Gamzu plädiert für mehr Fachleute in politischen Krisenämtern. In der Vergangenheit war der Professor zwar jahrelang Gesundheits­minister, er führte aber auch jahrelang die zweitgrößte Klinik des Landes. „Meine Autorität als Experte war sehr wichtig für das Vertrauen in den Impfstoff.“

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Kooperation und Vertrauen seien von Anfang an die wichtigsten Voraussetzungen gewesen, um das Virus zu besiegen. „Meine Erfahrung ist, dass man demütig sein muss, dass man den Menschen in die Augen sehen muss und vollkommen transparent handeln muss. Auf diese Weise konnte man sich auf mich verlassen. Meine Arbeit wurde wertgeschätzt“, sagt er.

Einen großen Fehler habe Israel gemacht, zwischen der dritten und vierten Welle. „Wir haben den grünen Pass aufgegeben, weil sich die Dinge gut entwickelt haben und weil eine Zugangs­beschrän­kung natürlich überhaupt nicht zu einem liberalen Land passt“, erklärt Gamzu. „Das wurde schnell zu einem riesigen Problem. Wir hätten beschließen sollen, dass der grüne Pass erst wegfällt, wenn die Pandemie vorbei ist.“ Inzwischen braucht man in Israel nach sechs Monaten einen neuen grünen Pass, um als vollständig geimpft zu gelten. Eine Entscheidung, die Gamzu nicht mehr selbst traf: Im November 2020 übernahm sein Nachfolger. Auch der Titel Covid Zar ist ein Amt auf Zeit.

„Menschen akzeptieren harte Entscheidungen, wenn sie logisch sind“, glaubt er. Politiker stünden tendenziell im Verdacht, undurch­sichtige Interessen zu vertreten. „Bei Wissen­schaftlern ist das anders.“ Das gelte auch für die Klimakrise.

„Wir brauchen in der Medizin einen Silicon-Valley-Modus“

Gamzu geht fest davon aus, dass sich die Pandemie hier entwickeln wird wie in seinem Land. Mehr Infektionen also, noch mehr. Ein erneuter Lockdown dürfe nicht die Antwort sein, meint er. Um die Erfahrungen aus Israel weiterzugeben, ist er mit dem deutsch-israelischen Partner­schafts­verein Elnet in Berlin unterwegs, um über die Pandemie zu sprechen – auch mit der Stiko.

Der Sound seiner Diagnosen ist dem deutschen Corona-Diskurs eher fremd. Wenn, dann hat ihn die Bewegung No Covid gele­gentlich anklingen lassen. Hat die Angst vor jeder autoritär anmu­tenden Entscheidung am Ende Leben gekostet und die Krise unnötig in die Länge gezogen? Das Beispiel Israel zumindest stimmt in dieser Hinsicht nachdenklich.

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Er habe in der Krise auch gelernt, dass sich die Medizin techno­logisch überschätze. Trotz der schnellen Impf­stoff­entwicklung. Ja, wir führen auch hoch­komplexe Operationen durch und trans­plantieren, wir haben uns in den vergangenen hundert Jahren rasant entwickelt, sagt er. „Aber es gibt riesige Lücken. Wir brauchen Stunden, um sicher fest­zu­stellen, ob jemand PCR-positiv ist.“ In Wahrheit seien andere Industrien technologisch viel weiter. Sein Appell, der über die Pandemie hinausgeht: „Wir brauchen in der Medizin einen Silicon-Valley-Modus.“

Zum Abschied reicht Gamzu die Hand. Wenn seine Rechnung aufgeht, können wir das in Deutschland bald wieder regelmäßig tun. Die Inzidenz in Israel ist im Oktober auf unter 100 geschrumpft.

RND

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