Wie hart wird der Corona-Herbst?
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Blick in das Patientenzimmer einer Intensivpatientin auf der Corona-Station in Duisburg.
© Quelle: imago images/Reichwein
Berlin. Die Ampel funktioniert, bevor es sie überhaupt gibt: Drei Politiker von SPD, Grünen und FDP nehmen am Mittwochmorgen auf dem Podium der Bundespressekonferenz in Berlin Platz und loben sich erst einmal gegenseitig in den höchsten Tönen. Von professioneller Zusammenarbeit ist die Rede, von vertrauensvoller Kooperation.
Dann präsentieren die Fast-Koalitionäre das erste Ampelprodukt, das das Leben von 83 Millionen Menschen in den kommenden vier Monaten bestimmen wird: Wie geht es weiter mit der Pandemiebekämpfung? Besteht immer noch eine Notlage? Welche Beschränkungen bleiben bestehen?
Die aktuelle Situation scheint höchst beunruhigend. Wer geglaubt hat, die Pandemie habe sich erledigt, wenn ausreichend Impfstoff zur Verfügung stehe, muss sich eines Besseren belehren lassen.
Die Zahl der Impfungen ist zwar hoch, aber das Wachstum scheint an eine unüberwindbare Grenze zu stoßen. Die Infektionszahlen steigen rasant, immer mehr Covid-Patienten liegen auf den Intensivstationen. Und es sind nicht nur die Ungeimpften, die erkranken. Auch Geimpfte haben sich angesteckt und leiden zum Teil unter heftigen Covid-19-Symptomen.
Wir erklären die Beschlüsse der Ampelparteien und ordnen die aktuelle Lage ein.
Wird die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ fortgesetzt?
Nein. SPD, Grüne und FDP haben sich in Eckpunkten darauf geeinigt, die Notlage nicht zu verlängern. Damit wird der umstrittene Paragraf 28a des Infektionsschutzgesetzes „stillgelegt“, wie es der FDP-Politiker Marco Buschmann ausdrückte. Dieser Lockdownparagraf enthält bisher massive Grundrechtsbeschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie, also zum Beispiel die Möglichkeit für Ausgangssperren oder für die Schließung von Schulen, Freizeiteinrichtungen oder Gaststätten – ohne Beteilung der Parlamente.
Auf das Ende hatten insbesondere FDP und Grüne gedrungen. Das Hauptargument: Es drohe keine Überlastung des Gesundheitswesens mehr. Tatsächlich zeigen bisher alle Simulationen, dass die Impfquote bereits jetzt hoch genug ist, damit die Intensivstationen nicht überlaufen.
Also steht nun der vielfach geforderte „Freedom Day“ unmittelbar bevor?
Nein. Denn es soll eine Übergangslösung geben, die erst zum Frühjahrsanfang 2022 am 20. März ausläuft. Um die Infektionszahlen zu begrenzen, können die Bundesländer weiterhin vergleichsweise milde Schutzmaßnahmen verhängen, etwa die Maskenpflicht, Abstandsgebote oder Zutrittsbeschränkungen (also die Anwendung der 3G- oder 2G-Regel). Auch Auflagen für Schulen, Kitas oder Hochschulen sind möglich, zum Beispiel die Anordnung von Wechselunterricht.
Der „Freedom Day“ wäre dann erst der 21. März 2022 – wenn es bis dahin keine neuen, gefährlichen Mutationen gibt, gegen die die bisherigen Impfstoffe nicht mehr zuverlässig wirken. Diese Einschränkung machten SPD, Grüne und FDP am Mittwoch.
Nach Angaben der drei Parteien sollen die Eckpunkte nun in Gesetzesform gegossen und Anfang/Mitte November im Bundestag beraten und beschlossen werden. Der Bundesrat braucht für seinen Beschluss eine Sondersitzung, damit die Gesetzesänderung rechtzeitig vor dem 24. November ins Gesetzblatt kommt.
Vereinbart wurde im Übrigen auch, dass es bis Frühjahr 2022 weiterhin einen erleichterten Zugang zu Hartz IV gibt und dass sich Eltern länger krankschreiben lassen können, um ihre Kinder zu Hause betreuen zu können.
Warum steigen eigentlich die Infektionszahlen derzeit so stark?
Am Dienstag meldete das Robert Koch-Institut (RKI) 23.212 Neuinfektionen, rund 6000 mehr als in der Vorwoche. Die gemeldete Sieben-Tage-Inzidenz stieg auf 118. Der R-Wert liegt derzeit bei 1,1 – jeder Infizierte steckt somit im Schnitt 1,1 weitere Menschen an. Solange dieser Wert über eins liegt, steigen die Infektionszahlen.
Dass sich das Coronavirus wieder verstärkt in der Bevölkerung ausbreitet, ist unter anderem der Jahreszeit geschuldet. Von anderen endemischen Coronaviren und Atemwegserregern ist bekannt, dass sie sich in den kalten Jahreszeiten besser verbreiten. Auch kommt dem Virus entgegen, dass sich die Menschen jetzt wieder öfter in Innenräumen aufhalten. Von den Infektionen sind sowohl Ungeimpfte als auch Geimpfte betroffen. Die genaue Relation ist allerdings unbekannt, weil der Impfstatus nicht immer erfasst wird.
Aus welchen Gründen <a href="https://www.rnd.de/gesundheit/corona-trotz-impfung-faq-wieso-kann-ich-an-corona-erkranken-obwohl-ich-geimpft-bin-E6MIZIRMQNC27BMC4U36CIR4ZE.html">infizieren sich Geimpfte</a> überhaupt?
Mehrere Studien zeigen, dass die Wirksamkeit der Corona-Impfstoffe im Zeitverlauf nachlässt. Ursache ist eine sinkende Konzentration der für die Bekämpfung des Virus notwendigen Antikörper. Davon sind Ältere stärker betroffen als Jüngere.
So hat ein Forscherteam um den Virologen Christian Drosten herausgefunden, dass 95 Prozent einer Studiengruppe mit einem durchschnittlichen Alter von 35 Jahren ein halbes Jahr nach der vollständigen Impfung mit dem Vakzin von Biontech noch neutralisierende Antikörper hatte. Bei den über 70-Jährigen waren es hingegen nur 61 Prozent. Also waren 39 Prozent von ihnen nicht vollständig vor einer Infektion mit der Delta-Variante geschützt.
Kann man dann überhaupt von einer <a href="https://www.rnd.de/gesundheit/corona-streit-ueber-die-pandemie-der-ungeimpften-JV2QJS4A2FAA5CZD2VDY6ALMWE.html">„Pandemie der Ungeimpften“</a> sprechen, wie es zum Beispiel Nochgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) tut?
Ja, denn entscheidend ist schließlich der Verlauf der Infektion. Zwar erkranken auch Geimpfte. Aber derartige Impfdurchbrüche führen in der Regel nicht zu schweren Krankheitsverläufen, die in der Klinik behandelt werden müssen oder gar zum Tode führen. Die Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) schätzte den Anteil der vollständig Geimpften unter den Covid-Intensivpatienten zuletzt auf lediglich 10 Prozent.
Laut RKI beträgt der Schutz vor einer coronabedingten Behandlung auf einer Intensivstation in der Altersgruppe der 18- bis 59-Jährigen derzeit rund 94 Prozent, bei den über 60-Jährigen rund 92 Prozent. Klar ist aber auch, dass der Schutz vor schweren Erkrankungen im Zeitverlauf sinken wird – allerdings nach Angaben von Wissenschaftlern nicht so schnell wie der Schutz vor einer Ansteckung.
Was können Auffrischungsimpfungen bewirken?
Studien zeigen, dass Boosterimpfungen für den weiteren Verlauf der Pandemie von entscheidender Bedeutung sind. Denn sie verstärken die Immunreaktion, um so einem nachlassenden Impfschutz entgegenzuwirken. Das konnten Forscherinnen und Forscher in mehreren Studien beobachten.
Deshalb haben in Deutschland laut Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz alle Menschen ab 60 Jahren Anspruch auf eine Auffrischungsimpfung – ebenso wie Immungeschwächte, Mitarbeitende im Gesundheitswesen und Bewohnerinnen und Bewohner von Pflege- und Altenheimen. Sechs Monate nach der vollständigen Impfung sollen sie eine dritte Dosis eines mRNA-Impfstoffs von Biontech/Pfizer oder Moderna erhalten.
Auch die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt eine dritte Impfung all denjenigen, die ein erhöhtes Risiko für eine Ansteckung oder einen schweren Krankheitsverlauf haben. Allerdings hat die Kommission die Altersschwelle für eine generelle Boosterimpfempfehlung höher angesetzt: Nicht allen über 60-Jährigen rät sie zu einer Auffrischungsimpfung, sondern allen über 70 Jahren.
Macht eine Boosterimpfung auch für Jüngere Sinn?
Derzeit nicht. „Bei Jüngeren besteht in der Regel keine Notwendigkeit, das zeigen die Daten“, sagt Professor Oliver Cornely von der Kölner Universitätsklinik, der das europaweite Forschungsnetzwerk „Vaccelerate“ leitet, in dem auch Drittimpfungen erprobt werden. Gleichwohl wird im Kreis der Gesundheitsminister diskutiert, ob die Altersschwelle für Auffrischungsimpfungen in den nächsten Wochen weiter heruntergesetzt werden soll.
Wie laufen die Boosterimpfungen?
Schleppend. Bisher haben erst 1,6 Millionen Menschen das Angebot für eine Auffrischungsimpfung angenommen. Hierzulande gibt es aber mehr als 24 Millionen über 60-Jährige. Ärzteverbände machen dafür unter anderem fehlende Aufklärungs- und Informationskampagnen verantwortlich.
Die neue Ampelkoalition will aber auch das Thema Impfen so schnell wie möglich angehen. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte bei dem Termin in der Bundespressekonferenz, im November solle beraten werden, wie mehr Menschen von einer Impfung überzeugt werden könnten.