Zeit zum Zusammenrücken gegen Putin
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Streithähne der deutschen Innenpolitik – und ein Mann im Hintergrund, der die Krise ebenso will wie den Streit darüber: Wladimir Putin.
© Quelle: Montage: RND, Fotos: IMAGO/Ilya Pitalev, IMAGO/Thomas Imo/photothek, Britta Pedersen/dpa, Michael Kappeler/dpa (2)
Friedrich Merz weiß, wie man Punkte sammelt im Land. Und er zeigt dabei eine Eigenschaft, die traditionell zur Jobbeschreibung für jeden Oppositionsführer gehört: eine gewisse Gnadenlosigkeit.
Seit Monaten attackiert der CDU/CSU-Fraktionschef die Regierung exakt an jenen Stellen, bei denen auch viele Wähler und Wählerinnen mit Blick auf Olaf Scholz Schwächen spüren: beim Zögern und Zaudern des Kanzlers in vielen Dingen und bei den häufigen Streitigkeiten innerhalb der Ampelkoalition.
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Hauptstadt-Radar
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Das Dauerfeuer von Merz trug zu einem beachtlichen stimmungsmäßigen Geländegewinn für die Union bei. Im jüngsten Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen zum Beispiel steht die Union bundesweit bei 27 Prozent, das sind stolze 5 Punkte mehr als zu Jahresbeginn. Die SPD ist unterdessen auf 18 Prozent abgerutscht, ein alarmierend schwaches Ergebnis für eine Partei, die den Bundeskanzler stellt.
Wen aber freut das alles? Und wem nützt es?
Altes Piff-Paff, neue Weltlage
Es wird Zeit, den Blick zu weiten. Angesichts der Bedrohung durch Wladimir Putin erweisen sich die parteipolitischen Scharmützel der vergangenen Monate in Berlin als das Piff-Paff einer Politik, die noch nicht begriffen hat, dass ihre alten Kategorien nicht mehr zur neuen Weltlage passen.
Deutschland braucht jetzt das Zusammenrücken aller Demokraten. Das ist kein Ruf nach einer Großen Koalition – eine starke Opposition gehört zum Lebenselixier der freien Gesellschaft. Nötig ist aber eine große Kooperation, ein ernsthaftes Zusammenwirken der Demokratinnen und Demokraten in dem Bewusstsein, dass der wahre Gegner, den es jetzt auszukontern gilt, nicht in dieser oder jener Berliner Parteizentrale sitzt, sondern im Kreml.
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Machtdemonstration in Moskau: Feierlichkeiten auf dem Roten Platz Anfang Oktober aus Anlass des völkerrechtswidrigen russischen Griffs nach vier Regionen der Ukraine.
© Quelle: dpa
Alle europäischen Demokratien müssen derzeit aufpassen. Russland hofft darauf, dass sie sich selbst von innen her zersetzen. Im Streit um die durch Putin verknappte Energie und die deswegen steigenden Preise sollen die Demokratinnen und Demokraten einander solange an die Gurgel gehen, bis das Publikum sich von ihnen seufzend abwendet und das Heil woanders sucht – beim starken Mann.
Quer durch Europa verläuft eine politische Front, an der Putin erfolgreicher agiert als auf dem Schlachtfeld in der Ukraine. Den ungarischen Regierungschef Viktor Orban hat Putin schon in der Tasche. Wie weit Moskaus Einfluss auf das neue rechte Regierungsbündnis in Italien reicht, wird sich zeigen.
Leise Erosion der Demokratie
Ein Umkippen von Demokratien wird stets erleichtert, wenn das Fundament ihrer politischen Mitte bröckelt. Deutschland steht in dieser Hinsicht noch immer stabiler da als viele andere EU-Staaten. Doch auch in Deutschland ist eine leise Erosion im Gang.
- Anfang Oktober 2022 lag laut Deutschlandtrend (Infratest Dimap) der Anteil der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger, die mit der Demokratie „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ sind, bei nur noch 51 Prozent.
- Schon seit Monaten messen Demoskopen ein nachlassendes Vertrauen in die „Problemlösungskompetenz“ der Politik insgesamt. So zeigte Ende September im Politbarometer (Forschungsgruppe Wahlen) auch die monatelang zuvor kräftiger gewordene CDU/CSU eine wieder leicht schwächere Tendenz. Merz blieb in der Persönlichkeitswertung weiterhin hinter Scholz zurück. Unterm Strich spricht dies weniger für eine Wendestimmung als für eine wachsende Ratlosigkeit im Publikum.
- Die Krise lässt besonders in Ostdeutschland das generelle Systemvertrauen wackeln. Dort sagten in einer Umfrage für den Ostbeauftragten der Bundesregierung (Deutschland-Monitor) nur noch 39 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sie seien „zufrieden mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert“. Noch vor zwei Jahren sagten dies in Ostdeutschland immerhin 48 Prozent. In Westdeutschland sank die Zufriedenheit mit der Demokratie von 65 auf 59 Prozent.
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Die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland lässt nach: Zahlen von Infratest Dimap für den ARD-Deutschlandtrend.
© Quelle: ARD Deutschlandtrend / screenshot
Viele Debatten über falsche Fragen
Hinter diesen Zahlen steckt eine Vielzahl von Faktoren, allen voran die Sorge um den eigenen Wohlstand. Dass es erstmals ernsthaft abwärtsgehen könnte, bedeutet für die Mehrheit der heute Lebenden in Deutschland eine so noch nie da gewesene Verunsicherung. Die von Scholz verkündete Zeitenwende hat auch eine bislang oft übersehene psychologische Dimension.
Bei der Suche nach dem Schuldigen sind die Deutschen dummerweise allzu schnell ins eigene Land zurückgekehrt. Oft wurden in den allabendlichen Krisentalkshows die falschen Fragen gestellt: Droht dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck ein Gesichtsverlust? Hat Olaf Scholz ein Kommunikationsproblem? Auch wurden allzu viele Diskussionen mit starrem Blick in den Rückspiegel geführt. Mal war Gerhard Schröder der Sündenbock, mal Angela Merkel.
Mehrere Tausend Menschen bei AfD-Demo in Berlin
Nachdem die AfD zu einer Demo im Berliner Regierungsviertel aufgerufen hatte, versammelten sich auch Hunderte Menschen zu einer Gegendemonstration.
© Quelle: Reuters
In Wahrheit haben zur völlig verqueren deutschen Energiepolitik alle demokratischen Parteien beigetragen, jede auf ihre Art, viele Jahre lang übrigens ganz ohne die heute üblich gewordene beißende Kritik aus den Medien. Inzwischen dominieren allerorten die Besserwisser und die Wendehälse. Allen Ernstes sprach sich, ein Treppenwitz, Oliver Welke in der „heute-show“ jüngst fürs Fracking in Deutschland aus.
Ausstieg aus der Unredlichkeit
Falsch war es natürlich, wie die Grünen jahrelang zu Recht betont haben, die Abhängigkeit von Russland beim Gas so weit zu treiben wie Merkel. Falsch – klimapolitisch wie strategisch – war es aber auch, erst aus der Kernenergie und dann aus der Kohle auszusteigen, was wiederum den Grünen wichtig war. Heute addieren sich diese beiden deutschen Sonderwege in ihrer schädlichen Wirkung auf Land und Leute.
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„Die Bürger wünschen sich mehr Tempo“: CDU/CDU-Fraktionschef Friedrich Merz bei einem Statement vor der Presse am 27. September 2022 in Berlin.
© Quelle: IMAGO/Christian Spicker
Was tun? Deutschlands Demokratinnen und Demokraten aller Couleur können Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, indem sie sich einen Ruck geben und ihre eigenen Fehler klar benennen. Dringender als jeden anderen Ausstieg braucht Deutschland einen Ausstieg aus der Unredlichkeit.
Verkneifen sollten sich die politischen Spieler in Berlin dagegen jeden Anflug von Arroganz gegenüber demokratischen Mitbewerbern. Leider walten da noch immer alte Reflexe. Ende September, an einem Tag ohne dramatische Weichenstellungen, genügte dem Oppositionsführer Merz ein organisatorisches Detail, um der Regierung eins auf die Nase zu hauen. Scholz, an Corona erkrankt, hatte entschieden, eine geplante physische Begegnung mit den 16 Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten zu verschieben.
Merz wünschte im Fernsehen gute Genesung, wurde dann aber schneidend: Scholz hätte die Runde virtuell abhalten sollen, sagte Merz, die Bürgerinnen und Bürger wünschten sich mehr Tempo „angesichts der Lage, in der sich unser Land befindet“. Das hörte sich an, als wären alle Probleme geringer, wenn nur die Regierung sich endlich mal darum kümmern würde – eine unfaire Rempelei gegen einen Kanzler, der seit Monaten nichts anderes mehr betreibt als Kriseneindämmung rund um die Uhr.
Dies ist nicht die Zeit für Wutreden
Dass wiederum auch Scholz kräftig austeilen kann, bewies er in einer Wutrede schon Anfang September im Bundestag. Donnernd wies der Kanzler die Verantwortung für alle Kalamitäten, die Land und Leute heute beschäftigen, der Union zu, angefangen von der verschleppten Energiewende bis zu den leeren Gasspeichern. Er, Scholz, indessen habe zum Beispiel durch den Bau von LNG-Terminals viele Probleme schon gelöst, „bevor die Union sich damit überhaupt befasst hat“.
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„Wir haben viele Probleme schon gelöst, bevor sich die Union damit überhaupt befasst hat“: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 7. September 2022 im Deutschen Bundestag.
© Quelle: IMAGO/Political-Moments
Minutenlang, freudestrahlend wie selten, applaudierten vor allem SPD und Grüne ihrem Kanzler: So kannten sie ihn gar nicht. „Scholz on fire“, hauchte „Tagesschau Online“.
Was aber bleibt von einem solchen Applaus des Augenblicks? Im Krisenwinter 2022/2023 werden Deutschlands führende Politikerinnen und Politiker mehr tun müssen, als nur ihre jeweils eigene Fankurve zu bedienen.
CDU, SPD, Grüne und FDP sollten sich darauf konzentrieren, die Strategien Putins auf intelligente Art zu durchkreuzen. Ein erster Schritt wäre eine kluge überparteiliche Regelung der komplizierten Details der 200-Milliarden-Euro-Gaspreisbremse.
Die gutwilligen, demokratisch gesinnten Politikerinnen und Politiker in Berlin müssen zusammenrücken. Dann werden es auch die gutwilligen, demokratisch gesinnten Bürgerinnen und Bürger draußen im Land tun. Noch gibt es zum Glück genug davon.