E-Paper
Stimmung vor den Wahllokalen

Zwischen Hoffnung und Trotz: Kilicdaroglus Anhänger geben noch nicht auf

Aufgegeben haben die Anhänger von Kemal Kilicdaroglu noch nicht.

Aufgegeben haben die Anhänger von Kemal Kilicdaroglu noch nicht.

Artikel anhören • 5 Minuten

Ankara. Aufgegeben haben die Anhänger von Kemal Kilicdaroglu noch nicht. Als der türkische Oppositionskandidat am Sonntagmittag zur Stimmabgabe am Wahllokal in Ankara eintrifft, erschallen die gleichen Sprechchöre wie bei der ersten Wahlrunde vor zwei Wochen: „Recht, Gesetz, Gerechtigkeit – Kilicdaroglu“, rufen die zahlreichen Menschen, die trotz eines Wolkenbruchs vor dem Schulgebäude auf ihn gewartet haben. Womöglich schwingt dabei auch Trotz mit, denn als klarer Favorit geht jedenfalls Präsident Recep Tayyip Erdogan in die Stichwahl. Erdogan hat in der ersten Runde deutlich vorne gelegen und die absolute Mehrheit nur knapp verfehlt.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Der Optimismus am Wahllokal ist bei allem demonstrativen Beifall für Kilicdaroglu denn auch verhalten. „Ich habe immer Hoffnung, glaube aber, dass Erdogan gewinnen wird“, sagt eine 26-Jährige, die wie viele Anhänger der Opposition aus Angst vor Repressalien ihren Namen nicht nennen will. Ihre drei Jahre jüngere Schwester kann sich an eine Zeit vor Erdogan nicht erinnern, er bestimmt die Geschicke der Türkei seit mehr als 20 Jahren. Sie wünscht sich „eine bessere Zukunft und Meinungsfreiheit“ – und damit einen Wechsel. Auch die 55 Jahre alte Mutter der Schwestern hat für Kilicdaroglu gestimmt, sie sagt: „Ich will Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit für meine Kinder.“

Kilicdaroglus Kampagne gegen Flüchtlinge

Die Stadt Sincan nordwestlich von Ankara ist eine Hochburg von Erdogans islamisch-konservativer AKP, die meisten Frauen tragen hier Kopftücher. Tuba Erciyas fällt aus dem Rahmen. Das T-Shirt der 25-Jährigen endet über dem Bauchnabel, ihre Augen sind hinter einer modischen Sonnenbrille verborgen. Den Anhänger an ihrer Halskette zieren Halbmond und Stern. Die Ingenieurin hat bei der ersten Runde den chancenlosen Rechtsaußenpolitiker Sinan Ogan gewählt, der nach seinem Ausscheiden zur Wahl von Erdogan aufgerufen hat. Erciyas hat ihre Stimme dennoch Kilicdaroglu gegeben – aus einem einzigen Grund: seine Kampagne gegen die rund vier Millionen Flüchtlinge in der Türkei, die er im Fall seines Wahlsieges innerhalb von einem Jahr abschieben lassen möchte.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Erdogan hat in Istanbul abgestimmt.

Erdogan hat in Istanbul abgestimmt.

Kilicdaroglu ist Chef der CHP, die traditionell eigentlich eine Mitte-links-Partei ist. Mit seiner harschen Anti-Flüchtlings-Rhetorik hat er nicht nur Erdogans AKP weit rechts überholt. Er hat damit auch im Bündnis der sechs Oppositionsparteien, deren gemeinsamer Kandidat er ist, für erhebliche Unruhe gesorgt. Umfragen zufolge unterstützen viele Türken den harten Kurs – darunter auch Erciyas. „Die Flüchtlinge und Asylsuchenden hätten nie hierhin kommen dürfen“, sagt sie aufgebracht. „Das sind gefährliche Menschen.“ Mit Blick auf die Syrer meint die Frau: „Jetzt, wo der Krieg in ihrem Land vorbei ist, können sie wieder gehen.“ Den Einwand, dass der Bürgerkrieg in Syrien mitnichten vorüber sei, will sie nicht gelten lassen.

Auch Zwillingsbrüder aus Sincan haben in dem Wahllokal für Kilicdaroglu gestimmt, wenn sie auch wenig Hoffnung auf einen Wechsel haben. Die 24 Jahre alten Bauunternehmer glauben, dass der größte Teil von Kilicdaroglus Wählern wegen seiner Kampagne gegen Flüchtlinge für ihn gestimmt habe. Einer der Brüder sagt, Erdogan habe in den ersten Jahren im Amt viel Gutes für die Türkei geleistet, sei aber inzwischen deutlich zu lange an der Macht. Er sei korrupt geworden und denke nur noch an seinen eigenen Vorteil. Seine Regierung sei außerdem verantwortlich für die Wirtschaftskrise, die sich im Fall seiner Wiederwahl noch verschärfen werde.

Taksim Gezi Park protesters demonstrate and clashes to riot police in Taksim square and Besiktas quarter in Istanbul, Turkey, 03 June 2013. Photo by Nazim Serhat Firat/DEPOPHOTOS/ABACAPRESS. COM

Zehn Jahre Gezi-Proteste: Als es noch Hoffnung gab

Der kleine Gezi-Park in Istanbul wird zum Ausgangspunkt von landesweiten Protesten: Vor zehn Jahren bricht sich die Wut auf die zunehmend autoritäre Regierung in der Türkei Bahn und vereint dabei die unterschiedlichsten Menschen. Was ist geblieben von den Protesten und dem Geist der Hoffnung?

Während des Interviews erscheinen zwei Polizisten, einer davon in Uniform, der andere in Zivil, sie wollen den von der Regierung ausgestellten Presseausweis kontrollieren. Der Zivilbeamte, der ganz in Khaki gekleidet ist und eine Pilotensonnenbrille trägt, kommt wenige Minuten später wieder. Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass es kein Problem mit der Akkreditierung gibt, sondern dass der Beamte namens Adem Bulut auch zur Wahl befragt werden möchte.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

„Sie behaupten, dass Erdogan ein Diktator wäre“

„Die USA, Großbritannien und Deutschland wollen Kilicdaroglu und nicht Erdogan als Präsidenten“, sagt Bulut. „Deshalb stimme ich definitiv für Erdogan.“ Die Wirtschaftskrise führt der 51-Jährige nicht auf die türkische Regierung, sondern ebenfalls auf den angeblichen Einfluss westlicher Staaten zurück. „Sie behaupten, dass Erdogan ein Diktator wäre. Aber wenn die Türkei eine Diktatur wäre, wäre man gar nicht in der Lage, ihn als Diktator zu bezeichnen.“ Das ist ein Argument, das auch die AKP immer wieder anführt – das allerdings unberücksichtigt lässt, dass tatsächlich zahlreiche Erdogan-Kritiker in der Türkei im Gefängnis sitzen.

Im Wahllokal in Ankara hat ein 38-Jähriger gerade seine Stimme für Kilicdaroglu abgegeben. Er ist nicht optimistisch, was er auch darauf zurückführt, dass Wahlen in der Türkei unter Erdogan nicht fair abliefen. Der Familienvater sagt, die Hälfte der Bevölkerung möge konservativ sein und hinter Erdogan stehen. „Die anderen 50 Prozent sind aber modern, weltoffen und orientieren sich an Europa.“ Sie würden verhindern, dass Erdogan aus der Türkei eine Diktatur mache. „Er versucht es immer wieder“, sagt der Mann. „Aber es wird ihm nicht gelingen.“


Anzeige
Anzeige

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken