Sind Sie größenwahnsinnig?
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Sternekoch mit preußischer Arbeitsmoral: Tim Raue hat sich aus dem "wilden Kreuzberg" in die internationale Spitzengastronomie hochgearbeitet.
© Quelle: Jörg Carstensen / dpa
Ihre Mails enden gerne mal mit dem Zusatz "Sent from a sunny place". Ist Berlin denn so ein sonniger Platz?
Nö, aber ich habe mir im letzten Sizilien-Urlaub lustige Mail-Endungen überlegt. Und diese dann behalten, denn ich versuche, so zu leben, dass an jedem Tag die Sonne scheint. Ich mag keine Kälte, darum dominieren bei mir auch in der Küche immer die Aromen von Frühling und Sommer.
Mit dem Studio haben Sie im Frühjahr Ihr viertes Restaurant in der Hauptstadt aufgemacht. Ist damit der Stress, so viele Betriebe am Laufen zu halten, nicht noch einmal deutlich gestiegen?
Klagen über Stress ist was für Leistungsverweigerer, Stress muss man mögen oder nicht. Ich arbeite wie ein Hochleistungssportler, Druck ist alltäglich. Wenn mich wirklich etwas stresst, dann wenn etwas nicht funktioniert.
Mal ehrlich, Tim Raue: Musste es denn unbedingt noch ein weiteres Restaurant sein? Dient das nicht nur Ihrem Ego?
Nein, das ist kein Größenwahn. Ich koche ja nur in einem der vier Restaurants selbst – in meinem eigenen. Im Studio, im La Soupe Populaire und im Sra Bua ist meine Aufgabe die eines Beraters für Gestaltung und Kulinarik. Nur deshalb geht es.
Als kulinarischer Berater müssen Sie es ja wissen: Gibt es einen neuen Trend zur regionalen Küche? In Berlin sprechen manche sogar von "brutal lokal".
Eins können Sie mir glauben: Ich habe mich wirklich noch nie für Trends interessiert. Ich will die besten Zutaten und Produkte verarbeiten, ganz gleich, ob sie aus 40 oder 400 Kilometern Entfernung angeliefert werden. Nachhaltigen Erfolg in der Küche erzielt man nur, wenn es mit Überzeugung geschieht. Wer nur etwas vorspielt, wird niemals nachhaltig arbeiten. Bei mir ist es die Leidenschaft für asiatische Küche. Thailändisch, japanisch, chinesisch – das fand ich von jeher spannend. Warum haben Sie diese scharfe Küche in Szechuan? Warum so ein Faible für feinste Produkte in Japan? Wobei immer nur japanische Küche mir zu fad ist, ich liebe "Ramba-Zamba-Küche" mit viel Würze.
Die Küche Asiens ist die eine Sache. Was können wir Mitteleuropäer eigentlich außer der Kochkunst von Asiaten lernen?
Den Respekt zwischen den Generationen. Sie werden nicht erleben, dass ein jüngerer Mensch einem Älteren respektlos begegnet. Und das Erfolgsdenken, wie Sie es etwa in Singapur und Hongkong erleben können. Die Menschen dort sind ehrgeizig, hier reden viele nur von Burn-out. Leistung wird in Asien belohnt, das finde ich positiv.
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Inspiriert von der asiatischen Küche: Tim Raue auf Kochexkursion in Thailand.
© Quelle: Vajanat Tangsubkul / dpa
Wie vegetarisch, vegan oder molekular muss es eigentlich sein?
Solche Etiketten sind unwichtig, egal ob sie vegetarische, molekulare oder regionale Küche verheißen. Natürlich bekommt jeder Gast bei mir auf Wunsch ein vegetarisches Menü. Aber vegan geht nicht, da habe ich keinen Bock drauf. Und in Berlin gibt es genug vegane Restaurants.
Dennoch sagen Sie, dass Sie Gäste glücklich machen möchten. Wie entsteht Glück beim Gast?
Es zählt nicht die Attitüde, wir holen den Gast da ab, wo er ist. Ob er Feinschmecker ist oder sich frisch an die große Küche herantraut. Ob er eine Krawatte trägt oder nicht, das ist doch unerheblich. Wichtig ist, dass er sich wohlfühlt und am Ende die Rechnung bezahlt. Meine Frau und ich behandeln die Gäste wie gute Bekannte, schließlich wollen wir, dass sie wiederkommen.
Eine Küche ist kein Wohlfühlclub. Sie haben Ihre Küchenmannschaft mit einer Löwenmeute verglichen. Ist der tägliche Kampf denn besser als fröhliche Teamarbeit?
Einer muss der Anführer sein. Und wenn der eine Schwäche zeigt, wird er weggebissen, das ist wie in der Natur. Darum lebe ich unserem Team täglich vor, wie es geht, das macht doch gerade den Spaß aus. Und fröhlich sind wir auch. Ich habe das Glück, dass die Führungs-Crew schon lange dabei ist, deshalb kann ich viel delegieren. Und so repräsentieren und neue Gerichte kreieren.
Sie bezeichnen sich gerne als Preuße. Eine Grundfarbe in Ihrem Restaurant ist Preußischblau. Wie ehrgeizig, wie diszipliniert sind Sie?
Ohne Disziplin geht nichts. Ich komme aus einem Milieu, das geprägt war von Disziplinlosigkeit, von Unpünktlichkeit. Damals habe ich gelernt, wie wichtig es ist, konsequent nach vorne zu gehen. Die Disziplin hilft dir, weiter zu wachsen.
Disziplin, das ist auch eine Tugend von Marco Pierre White, dem britischen Meisterkoch und "Enfant terrible".
Absolut beeindruckend, mit welcher Wucht der Mann arbeitet, mit welchem Ehrgeiz. Aber mein Besuch in seinem Restaurant, dem Oak Room in London, war dann doch deprimierend. Ich wollte seine Highlights Kaisergranat, Taube und Entenleber probieren, am Ende standen ein mittelmäßiges Menü und arroganter Service.
Apropos Disziplin. Sie trinken kein Bier, keinen Schnaps, kaum Wein, nie Kaffee – was denn dann?
Ha, das klingt gut! Die Wahrheit ist, dass ich Alkohol nicht vertrage. Zwei Wein, und ich schwächele. Und ich mag auch keine warmen Getränke. Dabei liebe ich Tee! Tee kann wie Yoga sein, nur dass er hinterher nicht wehtut. Aber eine Tasse Kaffee, und mein ganzer Bauch blubbert. Dafür trinke ich zu viel Limonade, dabei ist der viele Zucker darin super schädlich. Zucker ist eine Droge, er putscht uns auf!
Der Currywurst haben Sie nun auch abgeschworen.
Na ja, ich lebe nicht ohne Sünde. Zwar ohne Currywurst, aber nachts zu essen ist auch ungesund.
Ihr Restaurant liegt im "Warmduscher-Kreuzberg", wie Sie es nennen. Gleich hinter dem Checkpoint Charlie. Ist das nicht hektisch, zu trubelig?
Das bekomme ich Gott sei dank nicht mit. Ich lebe hier in meinem kleinen, persönlichen Reich, komme sehr früh morgens und fahre nach 16 Stunden oder so spät wieder nach Hause. Da ist es immer leer. Aber wenn ich mittags mal rausgucke, denke ich auch: Wahnsinn, was hier los ist.
Berlin wird an einigen Ecken immer mehr zum Disneyland. Leidet Ihre Berlin-Liebe am anhaltenden Hauptstadt-Boom?
Manchmal ist das wirklich ein ganz schöner Zirkus, aber der Berlin-Tourismus hat für uns auch viele positive Aspekte.
Sie sind aufgewachsen im Wrangelkiez, heute boomen da Ferienwohnungen so stark, dass sie vom Bezirk eingeschränkt werden. Ist noch was übrig vom wilden Kreuzberg Ihrer Jugend?
Kreuzberg ist enorm touristisch geworden, das stimmt. Aber es ist immer noch ein Schmelztiegel der Kulturen. Christen, Moslems, Juden, alle in friedlicher Koexistenz. Aber wir müssen aufpassen, dass das so bleibt.
Zum Fußball: Hertha BSC oder Union Berlin?
Mit Union Berlin kann ich nichts anfangen. Wenn, dann Hertha. Und Bayern. Und Dortmund. Vor allem aber bin ich ein wahnsinniger Fan der deutschen Nationalmannschaft. Mein Lieblingsspieler der Jugend war Karl-Heinz Förster, ein Gentleman, der auf dem Platz bretthart hinlangen konnte.
Tim Raue, was macht Sie glücklich?
Eine Stunde oder mehr im KaDeWe. Es ist der Traum meiner Kindheit, oft stand ich mit meiner Mutter vor den Schaufenstern des Kaufhauses. Heute bummele ich gerne lange durch die Gänge und lasse mich inspirieren. Dann vergesse ich komplett die Zeit.
Mit dem Studio Tim Raue hat der 41-Jährige Raue – Spitzname: Tim Tausendsassa – jetzt ein viertes Restaurant unter seinem Namen in Berlin eröffnet. Im Erdgeschoss der Factory, der ehemaligen Oswald-Brauerei im Prenzlauer Berg, die heute mehr als 20 Start-up-Unternehmen beherbergt, serviert ein junges Team typische Raue-Küche, die alle drei Monate das Thema wechselt. Nach Japan und Thailand wird zurzeit das Thema Sizilien gespielt.
Auch in der benachbarten Bötzow-Brauerei ist Tim Raue gastronomisch aktiv, das "La Soupe Populaire" bietet im rustikalen und doch lichten Backstein-Ambiente zeitgemäße Deutsche Küche – wie das schon legendäre Senfei mit Roter Bete und Saiblingskaviar oder die Königsberger Klopse. Zudem finden "auf Bötzow" wechselnde Kunstausstellungen statt.
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Kulinarische Zentrale: Das "Restaurant Tim Raue" in Kreuzberg.
© Quelle: Wolfgang Stahr / dpa
Das edle Restaurant Sra Bua im Hotel Adlon nahe dem Brandenburger Tor ist Raues Glanzstück für eine legere asiatische Küche. Hier im "Lotusblütenreich" serviert Raues Küchenchef Daniel Lengsfeld moderne panasiatische Küche, die mit saisonalen Produkten umgesetzt wird.
Die eigentliche kulinarische Zentrale aber ist das Restaurant Tim Raue in der Rudi-Dutschke-Straße, gelegen im Übergang des Bezirks Mitte nach Kreuzberg, in quirliger Nachbarschaft von Springer-Hochhaus, "taz" und den Touristenströmen am Checkpoint Charlie. Von hier aus steuern der Küchenchef und seine Frau Marie-Anne ihr kleines Gastro-Imperium.
Hier sind Ambiente und Küche noch reduzierter, noch minimalistischer. Brot, Nudeln, Reis und weißen Zucker suchen die Gäste vergeblich, aber wenn sie wollen, können sie sich vom Italiener nebenan Brot mitbringen, Raue sieht es da nicht so eng.
Aus Kreuzberg in die Haute Cuisine
Die Heimat von Tim Raue liegt ein paar Kilometer weiter südlich, sie ist das "wilde Kreuzberg". Unweit vom Kottbusser Tor wächst er in den Siebzigern als westberliner Scheidungskind auf, besucht in elf Jahren zehn Schulen. Als Jugendlicher schließt sich Raue den "36 Boys" an, einer Jugendgang im Wrangelkiez. Als er seine Frau kennenlernt, wendet er sich den Werten seiner Großeltern zu: Disziplin, Demut, Struktur.
Mit 17 Jahren beginnt er eine Kochlehre. Danach sammelt er Erfahrungen im Restaurant Quadriga des Hotels Brandenburger Hof, im Bamberger Reiter und im Restaurant Schloss Glienicke. 1997 wird Raue Küchenchef im Restaurant Rosenbaum, ein Jahr später übernimmt er in gleicher Position die Berliner Kaiserstuben und wird vom "Feinschmecker" zum Aufsteiger des Jahres gekürt. Nur ein Jahr später wechselt er mit seiner Frau als Küchenchef und Geschäftsführender Direktor in das E.T.A. Hoffmann im Hotel Riehmers Hofgarten – zurück in Kreuzberg.
2005 wird Raues Restaurant vom "Gault Millau" zu einem der "80 hottest tables around the world" gewählt. 2007 leuchtet der erste Michelin-Stern über Raue. Nur drei Monate nach der Eröffnung im September 2010 gibt es einen Michelin-Stern für das Spitzenrestaurant Tim Raue, im November 2012 folgt der zweite Michelin-Stern. Die Marke Tim Raue steht heute für perfekte und doch unkomplizierte Berliner Spitzengastronomie mit einer heiteren, asiatischen Note.