Vom Lieblingsnachbarn zum Justizfall? Das wilde Leben des Jérôme Boateng
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Vor Gericht wegen vorsätzlicher Körperverletzung: Fußballstar Jérôme Boateng.
© Quelle: Jeff Pachoud/AFP/dpa
Der Schwurgerichtssaal A 101/I. des Oberlandesgerichts in der Nymphenburger Straße 16 ist mit 110 Plätzen der größte Saal des Strafjustizzentrums München. An diesem Ort wurde Beate Zschäpe nach mehr als 400 Verhandlungstagen in fünf Jahren im NSU-Prozess wegen zehnfachen Mordes und anderer Straftaten zu lebenslanger Haft verurteilt. An diesem Ort wurde der frühere Formel-1-Chef Bernie Ecclestone 2014 gegen eine Zahlung von 100 Millionen Euro in einem weltweit beachteten Korruptionsprozess freigesprochen.
Und an diesem Ort wird sich auch Jérôme Boateng vor Gericht verantworten müssen, 33-jähriger Fußballstar, ehemaliger Nationalspieler und Boulevardheld. Im Verfahren mit dem Aktenzeichen „833 Ds 257 Js 200142/18“ geht es am Donnerstag um den Vorwurf der einfachen vorsätzlichen Körperverletzung: Boateng soll laut Anklage seine ehemalige Lebensgefährtin im Juli vor drei Jahren im Urlaub in einem karibischen Luxusresort bei einem heftigen Streit verletzt, an den Haaren gerissen, in den Kopf gebissen, sie zu Boden gestoßen und auf sie eingeschlagen haben. Für Boatengs Verteidigung steht Aussage gegen Aussage. Es sei eine klassische „Er sagt/sie sagt“-Situation. Man spricht von Verleumdungen. Es gehe um einen privaten Sachverhalt, der im Wesentlichen auf unbewiesenen Behauptungen Dritter beruhe. Neben diesem Prozess gärt seit Jahren eine Auseinandersetzung um das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die beiden gemeinsamen Zwillingstöchter, die, 2011 geboren, aktuell bei Boateng in München-Grünwald leben.
Ein Baustein in einem komplexen Drama
Juristisch geht es in diesem Prozess allein um die Frage, ob ein privater Streit mit einer Ex-Partnerin eskaliert ist oder nicht – und mit welchen Folgen. Bis zum Beweis des Gegenteils gilt die Unschuldsvermutung. Moralisch aber geht es um mehr. Denn der aktuelle Prozess ist nur ein Baustein in einem komplexen Drama, dessen trauriger Tiefpunkt im Februar der Suizid einer anderen Ex-Freundin von Boateng war: Kasia Lenhardt. Das 25-jährige Model hatte sich nach einer öffentlichen Schlammschlacht seitens Boateng unter lebhafter Mitwirkung der „Bild“-Zeitung am sechsten Geburtstag seines Sohnes, dem 9. Februar dieses Jahres, das Leben genommen.
Beide ehemaligen Boateng-Partnerinnen kannten sich nicht nur – sie tauschten sich zwischenzeitlich auch intensiv aus. Chatprotokolle, Sprachnachrichten und Whatsapp-Botschaften, aus denen unter anderem die „Süddeutsche Zeitung“ und der „Spiegel“ zitieren, zeichnen das Bild eines verworrenen Beziehungsgeflechts voller toxischer Abhängigkeiten, Drohungen, On-off-Phasen, Lügen und Verzweiflungstaten. Mittendrin: Boateng, der offenbar wenig unternommen hat, um die Lage zu beruhigen. Auch eine dritte Frau war im Spiel: das jamaikanische Model Rebecca Silvera, dessen Beziehung zu Boateng endete, als Lenhardt ins Spiel kam. Bei Instagram pflegte Boateng stets das Bild einer familiären Idylle und postete Bilder seiner Töchter Lamia und Soley sowie seines 2015 geborenen Sohnes Jermár, dessen Existenz er Ende 2018 bestätigt hatte.
Boateng, die Frauen und die mächtige Wirkung von Einfluss, Ruhm und Geld: Es ist eine komplizierte Suche nach der Wahrheit, die der „Spiegel“ unlängst in einer langen Story zu entwirren versuchte („Warum wollte Kasia Lenhardt sterben?“). Normalerweise berichten Medien so wenig wie möglich über Suizide. Der Tod der Kasia Lenhardt aber hatte eine bundesweite Debatte über lebensgefährliche Boulevardmechanismen, Cybermobbing und Machtmissbrauch ausgelöst. Das ist der Grund, warum die privaten Dramen des Jérôme Boateng plötzlich öffentliches Interesse erregten. „Lenhardt wurde Opfer eines Systems, das beschrieben werden muss, weil es sich wiederholen kann“, schrieb der „Spiegel“.
Was hat den Prozess verzögert? Corona – und der Tod
Es geht dabei um die Frage, ob ein Mann, der für Millionen Fans ein moralisches Vorbild ist, der sich als geschmeidiger Erfolgsmensch und millionenschwere Stilikone vermarkten lässt, Täter oder Opfer ist. Denkbar, dass Boateng als sprunghaft-impulsiver Superstar Zielobjekt einer Racheverschwörung wurde. Denkbar ist aber auch, dass der Showprofi kühl die mächtigen Allianzen eines bestens vernetzten Fußballprofis und seinen guten Draht zum Boulevard nutzte, um die Deutungshoheit über die privaten Dramen seines Lebens zurückzugewinnen – ohne Rücksicht auf die Folgen auf das Leben mehrerer vergleichsweise ohnmächtiger Kontrahentinnen, mit deren Schicksal sich das seinige verhakt hatte.
Die Staatsanwaltschaft München I hatte im aktuellen Fall bereits am 11. Februar 2019 Anklage erhoben. Doch erst jetzt, zwei Jahre und acht Monate danach, beginnt der Prozess. Was hat ihn verzögert? Corona. Und der Tod.
Das Leben und Sterben der Kasia Lenhardt
Katarzyna Lenhardt, genannt Kasia, die mit 16 Jahren den vierten Platz in der Pro-7-Castingshow „Germany’s Next Topmodel“ belegt hatte, hatte bis zum Februar eine 15-monatige Beziehung mit Boateng. In den Tagen nach der Trennung stand sie im Zentrum eines medialen Sturms, aus dem der Boulevard von RTL bis „Bild“ ordentlich Windenergie sog. Während der zur Schlammschlacht hochgejazzten Trennungswehen hatte vor allem die „Bild“-Redaktion kaum Zweifel daran gelassen, wem in diesem Spiel die Rolle der teuflischen Manipulatorin und Intrigantin zuzusprechen sei und wem die des Prinzen in schimmernder Wehr. „Jetzt wird’s schmutzig“, frohlockte das Blatt fünf Tage vor ihrem Tod. Die Initiative zu der Berichterstattung, so schreibt die „SZ“, sei wohl aus dem Boateng-Lager gekommen.
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„Jetzt wird’s schmutzig“: Katarzyna „Kasia“ Lenhard im Oktober 2012 im Friedrichstadtpalast in Berlin.
© Quelle: imago images/APress
Sechs Tage vor ihrem Tod gab Boateng der „Bild“-Zeitung dann ein höchst privates Interview voller schwerster Vorwürfe an Lenhardt („Meine Ex wollte mich zerstören“) – und warf ihr vor, ihn zu erpressen, massive Alkoholprobleme zu haben und damit gedroht zu haben, seine „Karriere zu ruinieren“.
„Eine moderne Hexenjagd“
Im Windschatten der Erregungsprofis überzogen Tausende von digitalen Zaungästen Lenhardt mit schwersten Beleidigungen, Häme und Hass. Auf ihrem Instagram-Account landeten Morddrohungen. Es war das vertraute Muster: Zur Hebung des eigenen Selbst taugt wenig so gut wie die aggressive Niedermachung prominenten Personals – erst recht, wenn Medien, die von genau dieser Erregung leben, so hübsch vorgeben, wer in diesem Drama die böse Königin ist. Lenhardts Mutter beschrieb die letzten Tage im Leben ihrer Tochter gegenüber dem „Spiegel“ als „moderne Hexenjagd“.
Auch gegen Lenhardt soll Boateng handgreiflich geworden sein. Ein zwischenzeitlich eingestelltes Verfahren wurde nur 24 Stunden nach ihrem Tod wieder aufgenommen. Warum? Es hätten sich „neue Hinweise“ ergeben, heißt es bei der Staatsanwaltschaft: „Das Verfahren wurde am 10. Februar 2021 wieder aufgenommen, weil uns im Rahmen des Todesermittlungsverfahrens in Berlin neue Erkenntnisse erreicht haben, die Hinweise auf eine mögliche Fortführung des Verfahrens geben könnten.“ Welcher Art diese sind – Schweigen. Boateng bestreitet auch dies vehement und ließ seinen Anwalt im Juni 2020 sogar Strafanzeige wegen „Strafverfolgung Unschuldiger“ gegen die zuständige Staatsanwältin erstatten. Ohne Erfolg.
Die spektakuläre Story eines Selfmadehelden
Die zwischenmenschlichen Dramen seines Lebens, die nun die Gerichte beschäftigen, beschädigen das sorgsam gepflegte Image des einstigen Nationalhelden. Seine Lebensgeschichte ist die spektakuläre Story eines Selfmadehelden: Boateng wuchs in Berlin-Charlottenburg bei seiner deutschen Mutter auf, die für British Airways als Flugbegleiterin und später für die Lufthansa arbeitete. Sein ghanaischer Vater Prince Boateng, der als DJ tätig war, verließ die Familie, als der Sohn fünf Jahre alt war. Boateng hat eine jüngere Schwester Avelina und zwei ältere Halbbrüder, die beide Fußball spielen: Kevin-Prince Boateng bei Hertha BSC in der Bundesliga und George Boateng als Amateur bei Hertha 06 Charlottenburg in der Oberliga.
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„Gewachsen auf Beton“: Ein Porträt des ehemaligen Fußball-Nationalspielers Jérôme Boateng (links) mit seinen Brüdern Kevin-Prince (rechts) und George (Mitte) ziert im Berliner Wedding eine Hauswand.
© Quelle: picture alliance / dpa
Mit zehn Jahren begann Boateng bei Tennis Borussia Berlin im Verein zu kicken, 2002 wechselte er mit 13 Jahren in die Nachwuchsabteilung von Hertha BSC und gewann 2005 mit der U17 die deutsche B-Jugend-Meisterschaft. Das Gymnasium verließ Boateng nach der zehnten Klasse mit dem Hauptschulabschluss, um sich auf seine Fußballkarriere zu konzentrieren („Deutsch und Mathe haben mir gut gefallen – bis zur sechsten Klasse“). Von da an ging es steil bergauf: vom Hamburger SV über Manchester City zum FC Bayern München. Seit Jahrzehnten kümmern sich PR-Agenturen, Anwälte, Marketingprofis und Vereinsmitarbeiter und -mitarbeiterinnen um jeden Aspekt seines Lebens.
„Die Leute wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben“
Spätestens nach der Weltmeisterschaft 2014 flogen ihm dann massenhaft die Herzen zu. Der Mann galt als Abwehrchef der deutschen Nationalelf als Fels in der Brandung: unerschütterbar, ruhig, verlässlich. Als sich AfD-Politiker Alexander Gauland im Mai 2016 in einem Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (FAS) zu der Bemerkung verstieg „Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut, aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben“, brach eine Welle der Solidarität und Sympathie über Boateng herein, auch von fußballfernem Publikum. Boateng reagierte staatsmännisch: „Ich kann darüber nur lächeln. Es ist traurig, dass so etwas heute noch vorkommt.“ Er war auf dem Höhepunkt und erhielt den Moses-Mendelssohn-Preis des Berliner Senats. Dieser Preis wird vergeben für „besondere Verdienste auf geistig-literarischem oder religiös-philosophischem Gebiet sowie für die Förderung der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und zwischen den Völkern, Rassen und Religionen“.
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„Sie können stolz sein“: Jérôme Boateng 2016 zu Gast im Bundeskanzleramt bei Bundeskanzlerin Angela Merkel.
© Quelle: picture alliance / BREUEL-BILD
Angela Merkel lud Boateng ins Kanzleramt ein und raunte seinem Vater zu: „Tollen Sohn haben Sie, können Sie stolz sein.“ Der „Spiegel“ feierte ihn in einem mehrseitigen Porträt als „Musterdeutschen“. Und unter den stets modebewussten und frisurinteressierten Nationalkickern war er mit eigener Brillenkollektion und sieben Millionen Instagram-Followern der Oberchecker im Styleranking. Boateng ließ sich von der Agentur Roc Nation des US-Rappers Jay-Z vermarkten und wurde zum Titelhelden seiner eigenen Personalityzeitschrift namens „BOA“, von der bisher immerhin drei Ausgaben erschienen sind. Auf einer Hauswand im Berliner Wedding prangt sein XXL-Porträt. Dazu die Worte „Gewachsen auf Beton“.
„Ich kämpfe als Kakerlake gegen Gott“
Boateng war die coolste Sau in der Kabine, der schnittige Hipstergangster aus Berlin, dessen Sneakerssammlung 650 Paar umfasst. „Ich glaube, es fällt auf, dass Jérôme wieder ein bisschen zur Ruhe kommen muss“, sagte Bayern-München-Chef Karl-Heinz Rummenigge damals, 2018 – „das ist ein bisschen zu viel“. 2019 dann folgte die Ausbootung bei der Nationalmannschaft durch Jogi Löw. Im Sommer lief sein Vertrag beim FC Bayern München nach zehn Jahren aus. Boateng wechselte zu Olympique Lyon.
Der Prozess in München soll die Frage klären, ob dieser Boateng, der so viele Sympathien genießt, ein Mann ist, der Gewalt gegen Frauen ausübt. Im Hintergrund aber wird eine weitere Frage verhandelt. Es geht um Medien, Missbrauch und Deutungsmacht in einer Medienwelt, in der Privates und Berufliches verschwimmen, in der Trennungsdramen als Entertainment missverstanden werden und die digitale Loyalität von Hunderttausenden Followern zur Waffe werden kann.
Sie fühle sich in der Auseinandersetzung mit Boateng, soll die frühere Lebensgefährtin einst gesagt haben, als kämpfe sie als „Kakerlake gegen Gott“. Nur ein Verhandlungstag ist angesetzt.
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