Wenn Influencer und Influencerinnen ihre Moral entdecken
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Nestlé hat den Gewürzverkäufer Ankerkraut übernommen.
© Quelle: picture alliance/Zoonar/RND-Montage Behrens
Hannover. Nein, ethische Grundsätze und Verantwortung, das waren in den vergangenen Jahren nicht zwangsläufig die Topthemen der deutschen Influencerbranche.
Immer wieder gerieten bekannte Onlinesternchen wegen fragwürdiger Werbekooperationen in die Schlagzeilen: Dubiose Glücksspiele, nicht funktionierende Bleachingprodukte für die Zähne und allerhand merkwürdige Cremes wurden mit Rabattcodes an den Mann oder die Frau gebracht – um nur einige Beispiele zu nennen. Und als wäre das alles nicht schon fragwürdig genug, so wurden viele dieser Werbepostings auch noch aus dem Steuerparadies Madeira abgesetzt – oder gleich aus dem fragwürdigen Influencerhauptquartier Dubai.
Bei soviel Egalhaltung im Konsumrausch kann es auf den ersten Blick ein wenig verwunderlich wirken, dass ausgerechnet die Influencerszene nun die neueste Moraldebatte in den sozialen Netzwerken vom Zaun bricht. Genau das ist aber gerade passiert.
Influencer und Influencerinnen distanzieren sich von Ankerkraut
Grund für die Aufregung: Die beliebte Influencermarke Ankerkraut wurde vom Lebensmittelkonzern Nestlé aufgekauft. Der Großkonzern hält künftig 85 Prozent der Anteile des Gewürzmischherstellers – und Stars, die zuvor noch fleißig Werbung für das Produkt gemacht hatten, distanzieren sich nun entschieden von der Firma.
Bekannt wurde die Marke Ankerkraut zunächst vor allem durch die Vox-Sendung „Die Höhle der Löwen“ – im Nachgang aber eben auch durch die Instagram-Postings unzähliger deutscher Onlinesternchen. Man gibt sich hip und nachhaltig und bio – genauso wurde das Produkt auch von zahlreichen Influencern und Influencerinnen verkauft.
Es reicht ein Blick in die Instagram- und Youtube-Suche, um zu verstehen, was da in den vergangenen Monate alles gepostet wurde: Ein Grill- und BBQ-Influencer beispielsweise zeigt stolz eine Ankerkraut-Dose mit Gewürzen für Rindfleisch, eine Mamainfluencerin zeigt ihr Lachspastagericht, das natürlich mit Ankerkraut gewürzt wurde, ein Gamer zeigt eine neue Bioteesorte des Unternehmens – und eine Lifestyleinfluencerin hat Currywurst gemacht, natürlich mit der passenden Gewürzmischung von Ankerkraut.
Unternehmen setzt massiv auf Kooperationen
Und es sind bei weitem nicht nur die großen Stars der Szene, die für das Unternehmen werben. Auch zahlreiche sogenannte Mikroinfluencer sind dabei, einige haben gerade mal ein paar Tausend Follower.
Ankerkraut setzt massiv auf Social-Media-Marketing, eine dreistellige Anzahl an Kooperationen hat das Start-up aktuell, vor allem in den Bereichen Lifestyle und Gaming. Neben Influencern und Influencerinnen auf Instagram bewerben vor allem auch Streamer und Streamerinnen das Produkt auf Twitch, und das in verlässlicher Regelmäßigkeit.
Mit dem Hype ist nun aber offenbar Schluss. Gleich mehrere kleine und große Onlinesternchen haben inzwischen auf ihren Plattformen verkündet, sich von Kooperationen mit der Marke Ankerkraut zu distanzieren, Tendenz steigend. Auf Twitter und Instagram schreiben viele enttäuschte Kommentare und machen eine klare Ansage: Mit dubiosen Konzernen wie Nestlé wolle man einfach nichts zu tun haben.
„Situation für uns nicht tragbar“
Angezettelt wurde der Protest vor allem durch bekannte Streamer und Streamerinnen aus der Gamingcommunity. So schrieb beispielsweise die Twitch-Streamerin Shurjoka (rund 200.000 Follower und Followerinnen) auf Twitter: „Ich bin unfassbar enttäuscht, weil ich die Produkte von Ankerkraut immer sehr gemocht hab. Mit dieser Entscheidung möchte ich mich allerdings von der Firma distanzieren, ich habe meine Partnerschaft mit Ankerkraut mit sofortiger Wirkung beendet.“
Auch der Streamer TrilluXe (rund 500.000 Follower und Followerinnen) äußerte sich: „Bin sehr traurig darüber, wir haben supercoole Aktionen in den letzten Monaten gemeinsam gemacht und noch einiges geplant gehabt für 2022. 🙁 Die Nachricht habe ich auch erst durch diesen Tweet erfahren, die Partnerschaft habe ich soeben mit sofortiger Wirkung beendet.“
Und auch der Kanal DoktorFroid (500.000 Follower und Followerinnen), zu dem auch der Youtuber LeFloid gehört, setzte auf Twitter ein Statement ab: „Da eine Kooperation mit Nestlé für uns nicht in Frage kommt, sehen wir keine andere Option, als die Zusammenarbeit mit Ankerkraut schnellstmöglich zu beenden. Wir sind dankbar für die Zusammenarbeit in der Vergangenheit, dennoch ist die Situation für uns nicht tragbar.“
Ein Umbruch in der Branche?
Inzwischen ist der Ankerkraut-Boykott zu einem Selbstläufer geworden. Auch zahlreiche kleinere Influencerinnen und Influencer, etwa auf der Plattform Instagram, distanzieren sich inzwischen. Die Kochbloggerin xperimentalkitchen (30.000 Follower und Followerinnen) schrieb beispielsweise in einem Post, sie wolle mit der Firma Nestlé „freiwillig nichts zu tun haben, das lässt sich mit meinem Gewissen leider nicht vereinbaren. Ich habe meine Kooperation beendet und möchte mich für die letzten Jahre bei euch für alles bedanken. 🙏 Wer weiß, vielleicht öffnen sich ja neue Türen ohne Nestlé.“
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Ankerkraut-Gründer Anne und Stefan Lemcke überzeugten 2016 in einer Fernsehshow den Investor Frank Thelen.
© Quelle: TVNOW / Bernd-Michael Maurer
Nachvollziehbar sind diese Entscheidungen allemal: Der Großkonzern Nestlé steht bereits seit vielen Jahren in der Kritik – und die Liste der Vorwürfe ist lang. Dass sich nun massenhaft Influencerinnen und Influencer von einer Marke distanzieren, ist aber dennoch kein alltägliches Vorgehen – möglicherweise ist das in diesem Ausmaß zuvor noch nie vorgekommen.
Handelt es sich hier etwa um eine Zäsur innerhalb der Branche? Haben die Influencer und Influencerinnen plötzlich doch Moral und ethische Grundsätze für sich entdeckt?
Nachhaltigkeit ist ein Geschäftsmodell
Nicht ganz. Tatsächlich spielt ein bewusster, nachhaltiger Lebensstil in der Branche schon seit Längerem eine immer größer werdende Rolle. Die Zeiten, in denen Influencerinnen und Influencer wahllos alle möglichen Kooperationen angenommen und in ihren Postings beworben haben, neigen sich spürbar dem Ende entgegen. Es geht nicht mehr ausschließlich um Selfcare und Selbstoptimierung – auch die Rettung der Welt ist inzwischen wichtig, zumindest ein bisschen.
Auffällig viele Gaminginfluencer beispielsweise sind Veganerinnen und Veganer, zieren ihre Profile mit Pflanzenemojis und verkaufen fair produziertes Merchandising in ihren Fanshops. Lifestylebloggerinnen auf Instagram machen auf Tierschutzthemen aufmerksam – und Influencer-Vanlife-Pärchen zelebrieren in zahlreichen Youtube-Videos einen nachhaltigen, fleischlosen Lebensstil.
All das muss inhaltlich nicht zwangsläufig stimmig sein: Gaminginfluencer trinken nebenbei in ihren Streams auch Energydrinks von fragwürdigen Brauseunternehmen, das Vanlife-Pärchen fährt nach dem veganen Abendessen mit seinem Dieselbus den Strand von Lanzarote kaputt. Aber die tatsächliche Haltung ist auch eher zweitrangig. Influencer und Influencerinnen sind Unternehmer und Unternehmerinnen – und der Hype um Nachhaltigkeit ist eine Nische, auf der sich wunderbar ein Geschäftsmodell aufbauen lässt.
Vom Influencer zum Sinnfluencer
Ganze Influencerzweigbranchen haben sich inzwischen aus dieser Haltung heraus entwickelt. Sogenannte Sinnfluencer klären in Instagram-Kacheln über Klimaschutz und Nachhaltigkeit auf und erreichen damit ein Millionenpublikum – während sie ihre Aufklärungsarbeit im nächsten Post geschickt mit Werbung verknüpfen, etwa für nachhaltige Banken oder vermeintlich grüne Superfoods.
Und auch Influencerinnen und Influencer aus der Koch-, Lifestyle- und Gamingcommunity wissen ganz genau, wieviel Geschäftspotenzial in einem bewussten Lebensstil steckt. Statt Ramschprodukte an den Mann oder die Frau zu bringen, setzen sie inzwischen lieber auf Nachhaltigkeit und die Verbesserung der Welt.
Wenn Werte nichts mehr wert sind
Marken wie Ankerkraut sind da die perfekten Kooperationspartner. Der Gewürzhersteller hat laut seiner Website sogar eigene „Werte“. „In einer immer hektischer werdenden Welt wollen wir Menschen wieder zusammenbringen und das rasche Tempo ein Stück weit entschleunigen“, heißt es dort beispielsweise – womit wir wieder beim Thema Selfcare wären. Zudem spricht das Start-up von „Verantwortung (…) gegenüber unserer Welt und den Lebewesen, die sie bewohnen.“ Und: Man verwende nur „qualitativ hochwertige Rohstoffe“ und beteilige sich an Charity-Aktionen.
In den sozialen Netzwerken lässt sich beobachten, dass sich der Hersteller in der Vergangenheit auch explizit Influencer und Influencerinnen als Partner und Partnerinnen ausgesucht hat, die genau diese Anforderungen und Werte selbst erfüllen – oder sie zumindest nach außen so darstellen. Die perfekte Symbiose also, ein perfektes Geschäftsmodell, eine Win-Win-Situation für beide Seiten.
Mit dem Verkauf an Nestlé fällt dieses mühsam aufgebaute Kartenhaus nun krachend in sich zusammen.