Fünf Thesen für 2023 mit Norbert Haug: Warum die F1 in Deutschland zum „Trauerspiel“ geworden ist
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Sebastian Vettel hat seine Karriere beendet - und einen Deutschland-GP gibt es weiterhin nicht. RND-Kolumnist Norbert Haug analysiert die Lage der Formel 1 in Deutschland.
© Quelle: IMAGO/Eibner
Quo vadis, Formel 1 in Deutschland? Mit dem viermaligen Weltmeister Sebastian Vettel hat eine deutsche F1-Ikone ihre Karriere beendet. Hoffnungsträger Mick Schumacher ist 2023 „nur“ Ersatzfahrer im Mercedes-Team. Der einzige deutsche Fahrer im nächsten Jahr ist Nico Hülkenberg beim Hinterbänkler-Team Haas. Dazu gibt es weiterhin kein Rennen in heimischen Gefilden mehr – und höchstens vier GP-Übertragungen im Free-TV. Die Motorsport-Königsklasse, die einst mit Michael Schumacher und Vettel so stark boomte, droht in Deutschland ein Aufmerksamkeitsproblem zu bekommen – oder?
Das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) hat dem ehemaligen Mercedes-Motorsport-Chef Norbert Haug diese These vorgelegt – und noch vier weitere. So äußert sich der 70-Jährige, der die Karrieren der jeweils siebenmaligen (Rekord-)Weltmeister Lewis Hamilton und Michael Schumacher von Beginn an begleitete, beide ab dem Juniorenalter gefördert und mit ihnen als Sportchef erfolgreich gearbeitet hat, unter anderem auch über den neuen Job von Mick Schumacher.
These eins: Mick Schumacher wird 2023 als Ersatz- und Testfahrer bei einem etablierten Spitzenteam wie Mercedes mehr lernen als bei einem ewigen Hinterbänkler-Team wie Haas.
Haug: „Für Mick ist das nach meiner Einschätzung in der Tat ein wahrer Glücksgriff, und Mercedes tut sehr gut daran, einen deutschen Fahrer in seine Formel-1-Mannschaft zu verpflichten. Nichts ist unmöglich, wenn Mick die ihm gestellten Aufgaben konzentriert, fleißig und lernwillig angeht, und genau davon gehe ich aus. Er wird diese Lern- und Ausbildungschance bei den Allerbesten beim Schopfe packen und das ihm Mögliche daraus machen. Klappt das alles, wie sich das die beteiligten Parteien vorstellen, ist in der Folge alles für Mick möglich. Zunächst gilt aber: Kopf runter, wenig reden und dafür umso mehr und umso härter arbeiten und dabei ganz viel lernen.“
These zwei: Red Bull war 2022 im ersten Jahr des neuen technischen Reglements zu dominant, um 2023 nun um seine Vormachtstellung an der Spitze des Feldes bangen zu müssen.
Haug: „Red Bull Racing selbst wird dies unter jeder Garantie überhaupt nicht so sehen: Wer übertrieben selbstsicher ist, arbeitet für den Gegner. Aber in der Tat ist die Ausgangslage auch 2023 perfekt und womöglich noch besser als 2022. Siege und Titelgewinne waren aber noch nie Selbstläufer, und wer wüsste das besser als ein Team, das 2021 durch eine sportrechtliche Fehlentscheidung Weltmeister wurde und 2022 endlich wieder dominant war, was zuvor sieben Jahre nicht gelang.“
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These drei: Bei Ferrari herrscht nach dem Katastrophenjahr 2022 und dem plötzlichen Teamchef-Wechsel zu Frédéric Vasseur schon jetzt zu viel Chaos, um 2023 um den Titel mitfahren zu können.
Haug: „Ferrari hatte keineswegs ein Katastrophenjahr. Ferrari wurde Vizeweltmeister, sowohl bei den Fahrern mit Charles Leclerc als auch bei den Teams. Red Bull wäre auch im besten aller Fälle von Ferrari nicht zu schlagen gewesen. Und dass Ferrari übers Jahr einige – gelinde ausgedrückt – merkwürdig anmutende Strategieentscheidungen getroffen hat und diese obendrein noch mit diversen Slapstick-Einlagen bei den Boxenstopps garnierte – geschenkt: Auch fehlerfrei hätte Ferrari in beiden Wertungen nicht besser abschließen können, als das in der abgelaufenen Saison gelang. Und: 2023 muss Ferrari erst mal besser als Zweiter werden, was ich keineswegs zu prophezeien wage.“
These vier: Lewis Hamilton wird alles daransetzen, um sich 2023 endlich zum alleinigen Rekordweltmeister zu krönen, doch die Zeit läuft gegen ihn – und vor allem die teaminterne Konkurrenz durch George Russell ist zu stark.
Haug: „Mercedes wird 2023 nicht so schlecht starten wie 2022, was speziell Ferraris Leben unter neuer Leitung nicht leichter machen wird. Ich bin sicher, dass Mercedes Red Bull Racing in der neuen Saison fordern wird und die WM-Titel sowohl bei den Fahrern als auch bei den Konstrukteuren zurückholen will. Dieses Ziel werden die Silberpfeile methodisch und kompromisslos verfolgen. Der Stachel der Erfahrungen aus 2022 sitzt in Brackley so tief wie in Brixworth, und wer glaubt, Lewis Hamilton habe schon fertig, dem beschreibe ich gerne in nächstjährigen Kolumnen, dass dies doch ganz anders gekommen ist. George Russell ist ein absoluter Topfahrer – beste Voraussetzungen im Rekord-Weltmeister-Team also, dass sich beide zu Höchstleistungen anspornen werden.“
These fünf: Die Formel 1 läuft in Deutschland 2023 Gefahr, ohne Zugpferde wie Vettel und Schumacher, ohne Heim-GP und ohne ständige Free-TV-Präsenz ein Aufmerksamkeitsproblem zu bekommen. Eine weitere in größten Teilen langweilige, eintönige Saison wie 2022 – zudem noch mit einigem Regelwirrwarr – ist daher verboten.
Haug: „Die Formel 1 hat sich in Deutschland zu einem Trauerspiel rückentwickelt, für das sich jeder Motorsportenthusiast nur fremdschämen kann. Zwischen 1994 und 2016 gab es deutsche Weltmeister wie am Fließband, sieben Titel von Michael Schumacher, vier in Folge von Sebastian Vettel und schließlich den bis dato letzten von Nico Rosberg 2016 im Silberpfeil. Mercedes gewann mit seinen Partnerteams McLaren und Brawn GP mit Mika Häkkinen, Lewis Hamilton und Jenson Button vier Fahrer-WM-Titel zwischen 1998 und 2009, das Mercedes-Silberpfeil-Werksteam wurde von 2014 bis 2021 achtmal in Folge Konstrukteurs-Weltmeister und holte dabei sechs WM-Titel mit Hamilton und einen mit Rosberg. Es gab ein Dutzend Jahre lang Ende der Neunziger und in den 2000ern gleich zwei Formel-1-Rennen in Deutschland pro Jahr, vor voll besetzten Rängen und jeweils über 100.000 Zuschauern, und bei RTL schauten zwölf Millionen Interessierte statt wie heute drei Millionen zu. Noch 2010 gab es sieben deutsche Formel-1-Fahrer in einer Saison, heute gibt es mit Nico Hülkenberg noch einen in einem allenfalls zweitklassigen Team und mit Mick Schumacher einen hoffnungsvollen Ersatzfahrer – aber das zumindest im richtigen Team. Einen deutschen Grand Prix gibt es schon lange nicht mehr. Ein eifernder grüner Automobilverweigerer hätte keine weniger ambitionierte und weniger erfolgreiche deutsche Formel-1-Strategie entwickeln können. Was ausdrücklich das Mercedes-Silberpfeil-Werksteam ausnimmt, das – richtigerweise – aus England operiert und zwei – großartige – englische Fahrer hat.
Audi, wir haben ein Problem, kann ich da nur sagen. Audi, die 2026 in die Formel 1 kommen werden, Mercedes, der ADAC, der AvD, deutsche Sponsoren und alle sogenannten Stakeholder sollten kräftig in die Hände spucken, Nachwuchsarbeit betreiben und gemeinsam dafür sorgen, dass die Autonation Deutschland nicht endgültig die Beute der Autohasser wird, die missachten, dass der Wohlstand im Land zu einem Großteil dank des Automobils und seinen Export-Erfolgen generiert wurde und trotz aller Torpedierungsversuche der Automobilverweigerer auch weiter generiert wird.“