Vom Skisprunghelden zum Burn-out-Patienten: Wie sich Sven Hannawald zurück ins Leben gekämpft hat
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Der ehemalige Skispringer Sven Hannawald hat seine Karriere aufgrund einer Burn-out-Erkrankung beendet, heute arbeitet er unter anderem als TV‑Experte für die ARD.
© Quelle: IMAGO/Oryk HAIST (Montage)
Herr Hannawald, im Jahr 2002 haben Sie als erster Skispringer überhaupt alle vier Springen der Vierschanzentournee gewonnen. Wie haben Sie diesen Triumph damals wahrgenommen?
So wie sich die Tournee entwickelt hat, war mir spätestens nach Innsbruck bewusst, dass ich mir endlich meinen Kindheitstraum vom kleinen Sven erfüllen konnte. Durch den Wettkampf am Bergisel hatte ich ja so viel Vorsprung, dass ich in Bischofshofen wahrscheinlich auch zweimal hätte stürzen können. Dass ich aber als Erster alle vier Springen gewinnen konnte, war noch offen und hat mich schon mehr belastet von der Anspannung und dem ganzen Drumherum.
Wie genau meinen Sie das?
Man hat gemerkt, dass mir fast alle Kameraleute hinterhergelaufen sind, um meine Geschichte einzufangen. Das hat die simple Aufgabe, einfach nur zu springen, natürlich extrem erschwert. Es war nicht einfach, alles zu ignorieren und die Dinge nicht an mich ranzulassen. Das hat viel Energie gekostet. Ich glaube, deshalb war es am Ende in Bischofshofen auch eher knapp, als es noch in Innsbruck war.
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Zwischen Zukunftsangst und Zuversicht
Mit unserem Projekt „Fearture" wollen wir, die Volontärinnen und Volontäre des RND, auf das Thema Zukunftsangst aufmerksam machen. Unsere Texte zeigen, wie sich diese Angst anfühlt, wann sie lähmt, wann sie zum Antrieb wird, wie man sie überwindet – und, wo es Grund für Hoffnung gibt.
Wann haben Sie das alles realisiert?
Man bekommt das am Anfang natürlich alles mit, aber irgendwie war es nicht spürbar. Wirklich realisiert habe ich es erst im Laufe der Jahre. Wenn du als Experte wieder an der Schanze bist und immer wieder dein Name in Verbindung mit den vier gewonnenen Springen fällt, dann wird es dir bewusster. Damals hatte ich direkt den nächsten Weltcup im Kopf, auf den ich mich auch vorbereiten wollte. Du bist dann einfach in so einem Ablauf drin, in dem man gar nicht mehr zum Nachdenken kommt.
Sie haben den immensen Druck vor dem letzten Springen in Bischofshofen bereits angesprochen. Lag das hauptsächlich an den Medien oder auch an Ihnen?
Ich sage es mal so: Der Perfektionismus und der Ehrgeiz sind mir in die Wiege gelegt worden. Dementsprechend habe ich mir die Latte selbst extrem hochgelegt. Das ist aber nicht bei allen so. Deshalb haben andere vielleicht nicht den inneren Erwartungsdruck wie ich. Dazu kommt aber auch, dass zu der Zeit das ganze Drumherum größer geworden ist. RTL hat die Übertragungen damals auf das Level der Formel 1 gehoben. Auch die Zuschauerränge waren immer voll. Das ist natürlich schön und macht Spaß, aber es war schwerer, den Fokus zu behalten.
Was hat das mit Ihnen gemacht?
Die erhöhte Aufmerksamkeit und neue Termine, die ich wahrnehmen musste, haben dazu geführt, dass ich meinem Körper nicht mehr die nötige Ruhe geben konnte. Das war am Ende auch der Grund, warum ich mich frühzeitig vom Skispringen verabschieden musste. Ich habe sehr unregelmäßig geschlafen und habe mich gefühlt wie ein Kaugummi. Du schleppst dich irgendwie rum. Ich wollte unbedingt alle vier Springen gewinnen und brauchte dementsprechend noch mehr Energie. In den zehn Tagen bin ich an einen Punkt gekommen, an dem ich gemerkt habe, dass es nicht mehr funktioniert.
Erst im April 2004 wurde öffentlich, dass Sie am Burn-out-Syndrom leiden. Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass Sie krank sind? Gab es da einen speziellen Moment?
Das ist nicht ersichtlich, weil Burn-out nicht so ist wie eine Grippe. Da merkt man am Vortag: Irgendwas kratzt im Hals und am nächsten Tag hat man den Salat. Psychische Erkrankungen, ob das jetzt Depressionen sind oder eben auch Burnout, sind anders. Das ist ein schleichender Prozess. Jetzt im Nachgang weiß ich, dass es wahrscheinlich mit der Müdigkeit angefangen hat, die nicht mehr rausgeht aus dem Körper. Ich kann mich erinnern, dass ich zwei Wochen im Urlaub war und mich auf dem Rückflug so gefühlt habe, als würde ich gerade hinfliegen. Und das ist ja nicht normal, wenn man dem Körper zwei Wochen Ruhe gibt.
Wie hat sich die Krankheit noch geäußert?
Ich wollte nur meine Ruhe haben, allein im Zimmer sein, mich irgendwo hinsetzen und nichts machen. Als ich das gemacht habe, bin ich mit der Ruhe aber nicht klargekommen. Dann habe ich gedacht, ich muss mich bewegen. Dadurch nimmst du dem Körper aber wieder Energie. Das ist einfach eine Spirale, du bist nicht mehr Herr der Lage. Dementsprechend war ich froh, als ich irgendwann mal bei einem Arzt war, der mir sagen konnte, was mit mir los ist.
Wenn du merkst, es geht dir nicht gut, und der Arzt sagt dir, dass alles bestens ist, ist das wie ein Nackenschlag.
Sven Hannawald
Also waren Sie vorher schon bei anderen Ärzten, die Ihnen nicht helfen konnten?
Ja, man weiß ja erst mal nicht, was es ist, und geht mit den Symptomen zu einem Allgemeinmediziner. Der hat verschiedene Blutbilder gemacht, die alle unauffällig waren. Alle haben zu mir gesagt: In den Werten sieht man, dass Sie Leistungssportler sind. Alle Organe, die kontrolliert wurden, sahen gut aus. Auch Pfeiffersches Drüsenfieber wurde ausgeschlossen. Dann steht man da wie eine Kuh vor dem Berg. Wenn du merkst, es geht dir nicht gut, und der Arzt sagt dir, dass alles bestens ist, ist das wie ein Nackenschlag. Das ging über anderthalb Jahre so. Dann war ich endlich bei einem Arzt, der mir eine Diagnose geben konnte.
Sie wurden dann in einer Spezialklinik behandelt und haben anschließend im August 2005 Ihr Karriereende bekannt gegeben. Wie kam es zu der Entscheidung?
Es blieb mir nichts anderes übrig. Es war bis heute der schwerste Tag in meinem Leben, weil ich mein geliebtes Skispringen loslassen musste. Nach meinem Klinikaufenthalt habe ich mir wirklich Zeit gelassen, weil mir erst da bewusst geworden ist, was ich mit meinem Körper angestellt habe. Natürlich wollte ich wieder zurückkommen und habe versucht, alles langsam wieder aufzubauen. Es ging dann auch in die richtige Richtung und ich bin auch gesprungen. Vom Kopf her habe ich mich schon wieder mit dem Material beschäftigt, dass ich wieder effektiv springen kann. Eines Tages hat es sich aber geändert.
Was ist passiert?
Wie die Wochen zuvor auch bin ich zum Krafttraining in die Halle gegangen. Da hatte ich das erste Mal seit Langem wieder dieses unruhige Gefühl. Das war für mich der Punkt, an dem ich eine Entscheidung treffen musste. Gehst du jetzt weiter in die Halle, schiebst alles weg für den Erfolg, landest aber wieder in der Klinik? Oder sagst du hier jetzt Stopp? Ich habe mich dann für das Ende entschieden, weil ich nicht noch mal in die Klinik wollte. Ich wusste, wenn ich jetzt durch diese Hallentür gehe, bringe ich mich wieder in eine Bredouille. Und das wollte ich nicht.
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„Wenn Sie vor der Zukunft nur noch Angst haben, können Sie sich gleich ins Grab legen“
Die jüdische Psychotherapeutin und Kinderärztin Eva Umlauf beschäftigt sich beruflich mit den Ängsten junger Menschen. Sie selbst überlebte als Kind das KZ Auschwitz – und versteht die aktuellen Sorgen der jungen Generation, wünscht sich aber mehr Optimismus.
Können Sie beschreiben, wie Ihnen der Aufenthalt in der Klinik geholfen hat?
Es war für mich der einzige Weg, um wieder zurückzukommen. Eine ambulante Therapie hätte nicht funktioniert, weil ich – sobald ich die Praxis wieder verlassen hätte – zurück in mein altes Leben gegangen wäre. Und das wäre nicht richtig gewesen. Die Klinik war ein neutraler Ort, an dem ich vorher noch nie in meinem Leben war. Es war für mich die Möglichkeit, mich auf neutralem Boden neu kennenzulernen und auch meine Gefühle zuzulassen. Das war in Gesprächen auch mit viel Tränen verbunden, aber es hat sich gut und befreiend angefühlt. Das hat innerhalb weniger Wochen sehr geholfen. Dieses Gefühl, dass man sich selbst wieder spürt, das nimmt man dann auch mit in die alte Welt. Nach fünf Wochen habe ich gemerkt: Ich bin so weit, ich brauche die Klinik jetzt nicht mehr, ich habe alles wieder im Griff und ich fühle mich gut und bin auch wieder unternehmenslustig.
Wie waren die ersten Tage nach der Klinik?
Als ich vor der Tür meiner Eltern stand, hatte ich erstmals wieder so ein unruhiges Gefühl. Ich glaube, mein Körper dachte, dass ich jetzt wieder mit dem alten Leben anfange. Nach einer Woche bei meinen Eltern hat er dann aber gemerkt: Der geht ja gar nicht trainieren und der telefoniert auch nicht mit seinem Trainer. Irgendwie ist hier alles anders. Mein Körper hat gemerkt, dass ich was aus der Klinik mitgenommen habe. Als ich dann wieder in meine eigene Wohnung gefahren bin, war es anfangs natürlich die gleiche Baustelle. Vielleicht sogar ein bisschen mehr, weil ich im Schwarzwald auf mich gestellt war und mit der Unruhe allein klarkommen musste.
Und das hat funktioniert?
Ja, anfangs schon. Ich habe mit dem Training angefangen und es war gut. Ich hatte diese Unruhe sowie meine innere Stimme im Griff und dachte, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Aber wie gesagt: Dann kam Tag X und ich musste loslassen.
Hatten Sie auch mal Zweifel daran, dass Sie wieder gesund werden?
Natürlich hat man Zweifel, das ist vollkommen klar. Man möchte aufwachen und alle Sorgen los sein. Es gab auch Tage, an denen ich morgens gedacht habe, dass ich den Berg überwunden habe, und dann war der nächste Tag plötzlich wieder im Eimer. Man kann es aber nicht erzwingen. Ich habe gelernt, damit umzugehen. Auch die Klinik hat dabei sehr geholfen. Wenn mir etwas richtig auf den Sack geht, dann denke ich immer wieder an die Gespräche mit den Therapeuten. Sie haben mir gesagt, dass man die Dinge auch mal zulassen muss, sich nicht so reinsteigern darf und es vorübergeht. Das hilft mir noch heute in gewissen Situationen. Es bringt nichts, sich mit der gesamten Energie im Körper dagegen zu wehren.
Glauben Sie, dass man die Krankheit auch ohne Hilfe überwinden kann?
Wenn man merkt, dass man aus dem Strudel nicht mehr rauskommt und auch Gespräche mit vertrauten Personen aus dem Umfeld nicht helfen, sollte man sich professionelle Hilfe suchen. Je länger man das vor sich herschiebt, desto länger dauert der Heilungsprozess.
Depression durch die Brille: „Es schafft Verständnis für die Erkrankung“
Wir waren vor Ort bei der Robert-Enke-Stiftung, die mithilfe der virtuellen Realität mehr Verständnis schaffen möchte für psychische Erkrankungen.
© Quelle: RND/Frederik Eichholz
Wie hat Ihr Umfeld reagiert, als Ihre Diagnose bekannt wurde?
Mein enges Umfeld war froh, dass ich endlich bei einem Arzt war, der mir eine Diagnose geben konnte. Ab diesem Zeitpunkt wussten sie, dass es eine bessere Chance auf Heilung gibt. Alle anderen Leute, die vielleicht auch gesagt haben, „Ach, der Hannawald hat einen am Helm“, haben mich eh nicht interessiert.
Die Krankheit galt lange als Tabuthema, inzwischen bewegen wir uns aber immer mehr in die richtige Richtung, oder?
Wir sind noch immer auf der Reise. Als nicht betroffene Person kann man die Krankheit oft nicht nachvollziehen. Man denkt sich: „Der macht das Gleiche wie ich in der Firma und hat jetzt Burn-out. Warum habe ich das nicht?“ Für Betroffene ist es einfach wichtig, dass sie das Gefühl bekommen, dass Burn-out oder Depressionen sie nicht kategorisiert in eine Ecke drängt. Ich gehe davon aus, dass es in spätestens 15 Jahren als normale Grippe angesehen wird.
Psychische Krankheiten sind in Deutschland in den letzten Jahren stark angestiegen. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe dafür?
Das Leben ändert sich in der heutigen Zeit immer mehr in Richtung Kopf. Die Arbeit am Computer ist zwar von der Art her anders, fordert uns aber auch enorm. Wir gestehen uns selbst nicht ein, dass es auch anstrengend ist, wenn man von morgens bis abends im Büro sitzt und auf der Tastatur rumtippt. Wir müssen lernen, dass es auch fordernd ist, dauernd auf Empfang zu sein, und dass wir Zeit zur Regeneration brauchen.“
Zur Person
Als Skispringer hat Sven Hannawald große Erfolge gefeiert. Im Jahr 2002 gewann der heute 48-Jährige als erster Sportler die Vierschanzentournee mit Siegen in allen vier Wettbewerben, darüber hinaus sicherte er sich in seiner Karriere drei olympische Medaillen (einmal Gold, zweimal Silber) sowie drei WM-Medaillen (zweimal Gold, einmal Silber). Am 29. April 2004 wurde bekannt, dass Hannawald am Burn-out-Syndrom litt und sich in einer Spezialklinik behandeln ließ. Sein Karriereende folgte am 3. August 2005 – er wollte sich nach erfolgreicher Behandlung seiner Krankheit nicht mehr den Strapazen des Profisports aussetzen. Heute arbeitet Hannawald als TV-Experte für die ARD und ist bei den Skisprungübertragungen des Senders gemeinsam mit Moderator Matthias Opdenhövel aktiv. Am 1. Juli 2016 gründete der ehemalige Wintersportler gemeinsam mit dem Diplom-Betriebswirt Sven Ehricht eine Unternehmensberatung. In Talks und Seminaren spricht er offen über seine Erfahrungen im Skispringen sowie den Umgang mit Leistungsdruck und einer Burn-out-Erkrankung. Hannawald ist seit 2016 mit der Fußballerin Melissa Thiem verheiratet und hat mit seiner Ehepartnerin zwei Kinder. Darüber hinaus hat er einen weiteren Sohn aus einer früheren Beziehung.
Und die nehmen wir uns nicht?
Viele gehen nach Hause und denken sich nach einem Bürotag: „Ach, komm, ich mache hier noch ein bisschen was und mache da noch ein bisschen Social Media.“ Dadurch wird der Kopf aber weiter gefordert. Pause machen heißt nicht, dass man sich draußen in die Sonne setzt, einen Kaffee trinkt, raucht und Social Media checkt. Pausen sind für uns frische Luft und Ruhe fernab von digitalen Themen. Das machen wir leider viel zu selten.
Was empfehlen Sie?
Am besten ist es, sich zu bewegen. Dadurch können wir Stress viel schneller abbauen. Frische Luft und das tiefe Durchatmen helfen uns zudem dabei, wieder Abstand zu gewinnen. Natürlich muss jeder seinen eigenen Weg dabei finden, der einen ausgleicht. Oft hilft es auch, die Zeit mit der Familie und Freunden zu genießen. Fest steht nur: Wenn wir mit dem Mobiltelefon weiter in der digitalen Blase bleiben, kann ich auch gleich vorm Computer sitzen bleiben und weiter meine 25.000 Mails abarbeiten. Das ist nicht förderlich.
Gibt es heute noch Momente, in denen es Ihnen nicht gut geht?
Natürlich kommt das zwischendurch noch hoch. Es kommen ja immer wieder neue Erfahrungen im Leben dazu. Ich habe aber für mich gelernt, damit umzugehen. Es gibt Tage, die sind nur für mich bestimmt und da lege ich das Handy und den PC auch bewusst beiseite. Wenn ich Anfragen bekomme, versuche ich natürlich immer, sie irgendwie unterzukriegen. Wenn es aber um die Zeit geht, die für mich eingeplant ist, sage ich ab. Das ist das, was viele lernen müssen. Man muss nicht immer flexibel sein, vor allem nicht, wenn man eh schon gestresst ist.
Haben Sie Depressionen? Dann können Sie sich an folgende Rufnummern des überregionalen Krisentelefons wenden.
Telefonhotline (kostenfrei, 24 h), auch Auskunft über lokale Hilfsdienste:
- (0800) 111 0 111
- (0800) 111 0 222
- 116 123 (für Kinder und Jugendliche)
- Per Mail und Chat: online.telefonseelsorge.de