Amazon in der Corona-Krise: Das Lächeln wird zum Grinsen
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Gewinner in der Krise, Gewinner in der Kritik: Amazon.
© Quelle: Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbil
Sie würden das nicht so sagen. Weil das Wort keinen guten Klang hat. Es würde der menschenfreundlichen, sanften Botschaft widersprechen, die der Konzern zu verbreiten sucht. „Krisengewinnler“, das klingt, als würde man mit von jener Situation profitieren, die viele Menschen bedroht. Aber im Grunde ist Amazon natürlich genau das: der ganz große Gewinner der Krise.
Allein in Deutschland hat Amazon seinen Umsatz im vergangenen Jahr um ein Drittel steigern können, auf knapp 25 Milliarden Euro. In den USA legte Amazon um 36 Prozent zu, in Großbritannien um mehr als die Hälfte. Die Pandemie war für den Konzern rein ökonomisch ein Glücksfall. Eine mehrmonatige Phase, in der die Geschäfte geschlossen sind, Amazon aber fast weitermachen kann wie zuvor: Hätte man sich in der Konzernzentrale ein ideales Szenario ausgemalt, es hätte wohl ungefähr so ausgesehen.
Aber was ist Amazon in dieser Krise? Ein unverzichtbarer Versorger, der den Menschen in dieser Zeit all das bringt, was sie anderswo nicht mehr bekommen? Oder doch eher die ultimative Bedrohung für den traditionellen Handel? Ein Fluch für die Mitarbeiter, von denen sich viele seit Jahren über die Arbeitsbedingungen beschweren? Oder ein Segen, weil zumindest sie vor einer Pleite keine Angst haben müssen? Die Wahrheit ist wohl: von allem etwas.
Amazon und die Mitarbeiter
Wenn Petra Ginster morgens zur Arbeit fährt, dann tut sie dies seit einigen Monaten mit einem unguten Gefühl. Sie fährt auf Straßen, die viel leerer sind als sonst, vorbei an Geschäften, die seit Wochen kein Kunde betreten darf – hin zu einer Halle, in der es voller ist denn je. „In der gesamten Gesellschaft soll man keine Kontakte haben“, sagt Petra Ginster. „Aber hier kommen Hunderte auf engstem Raum zusammen – und dazu immer wieder neue Beschäftigte, weil in der Pandemie immer wieder neue Aufträge dazukommen.“ Man habe, fügt sie hinzu, „schon Angst, sich anzustecken“.
Petra Ginster arbeitet seit zehn Jahren bei Amazon. Ihren richtigen Namen möchte sie aus Angst vor Sanktionen ihres Arbeitgebers nicht veröffentlicht wissen, ebenso wenig wie ihre genaue Funktion. Was man aber sagen kann: Sie arbeitet inmitten der Menge, dort, wo die Mitarbeiter die Waren aus den Regalen greifen und zu Sendungen zusammenstellen. Homeoffice ist für sie unmöglich.
Die Widersprüchlichkeit, die Petra Ginster derzeit empfindet, plagt derzeit offenbar viele Amazon-Mitarbeiter. Draußen ein strenger Lockdown – drinnen wegen des Onlinebooms volle Hallen wie sonst nur im Weihnachtsgeschäft. Viele, sagt Thomas Rigol, Betriebsratsvorsitzender am Amazon-Standort Leipzig, teilten jenes ungute Gefühl, „weil sie nicht sicher sind, ob wirklich alles dafür getan wird, dass sie geschützt sind“. Anerkennung gebe es nicht, dafür aber Kontrollen, „als gäbe es die Krise nicht“. Ginster berichtet, dass Manager Angestellte vereinzelt bis vor die Toilette verfolgten: „Sie schauen dann, wie lange die Menschen drinnen bleiben.“
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Gründete das Unternehmen vor 17 Jahren: Jeff Bezos.
© Quelle: Andrej Sokolow/dpa
Die Anfrage für eine Reportage in einem Amazon-Zentrum lehnt das Unternehmen unter Verweis auf die Corona-Situation ab. Der Konzern selbst sieht sich als unverzichtbaren Versorger, dessen „oberste Priorität die Gesundheit und das Wohlbefinden“ der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei, erklärt ein Sprecher. Die Schilderung, Angestellte würden vereinzelt bis vor die Sanitärräume verfolgt, bezeichnet er als falsch: „Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben die Möglichkeit, jederzeit auf die Toilette zu gehen.“ Zu den Schutzmaßnahmen während der Pandemie zählten unter anderem Temperaturmessungen am Eingang, Maskenpflicht, verstärkte Desinfektionen und Zwei-Meter-Abstandsregeln. Mehr als 80-mal hätten Gesundheitsämter und andere Behörden allein im vergangenen Jahr die Amazon-Logistikstandorte besucht „und die Wirksamkeit unserer Schutzmaßnahmen wiederholt bestätigt“. Die Kommunikation an die Mitarbeiter sei klar: „Wer sich krank fühlt, muss zu Hause bleiben.“
Dennoch war es kurz vor Weihnachten zu zwei Ausbrüchen in Garbsen bei Hannover und Bayreuth mit jeweils mehreren Dutzend Ausbrüchen gekommen. Wie viele Infektionen es insgesamt an Amazon-Standorten gab, erklärt der Konzern nicht.
Die Gewerkschaft beklagt vor allem die Ungleichbehandlung von normalen Geschäften und dem Onlineriesen. Amazon profitiere davon, dass der Einzelhandel geschlossen ist. „Es gibt einen massiven Vernichtungswettbewerb, der den Einzelhandel in den Ruin treibt“, sagt Orhan Akman, Fachgruppenleiter bei Verdi, „die politischen Weichen sind völlig falsch gestellt.“ Verdi sieht sich durch die momentane Situation vor allem in einer alten Forderung bestärkt: Seit Jahren fordert die Gewerkschaft einen Tarifvertrag ähnlich wie im Einzelhandel. Dadurch, ist Akman überzeugt, wäre auch die Gesundheit der Mitarbeiter besser geschützt.
Amazon und die Steuern
Amazon sei ein großer Steuertrickser und enthalte Kommunen und Ländern das Geld vor, lautet eines der gängigen Urteile über den Konzern – gegen das sich Amazon inzwischen zur Wehr setzt. Seit Neuestem weist das Unternehmen deshalb aus, wie viele Steuern es zahlt. So habe Amazon für 2019 einen „steuerlichen Gesamtbeitrag“ von 1,6 Milliarden Euro geleistet. Davon seien 261 Millionen Euro direkte und 1,4 Milliarden indirekte Steuern, also zum Beispiel Mehrwertsteuern oder von Mitarbeitern gezahlte Steuern. Für 2020, das Jahr, in dem der Umsatz deutlich gestiegen ist, weist Amazon auch auf Nachfrage noch keine neue Zahl aus.
Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit hält die Aussagen allerdings nicht nur deshalb für wenig aussagekräftig: „Ob Amazon ordentlich und ausreichend Steuern zahlt, ließe sich nur beurteilen, wenn sie sagen würden, wie viele Gewinne sie in Deutschland machen und wie viel Ertragssteuer sie darauf zahlen.“ Trautvetter legt deshalb die weltweite Profitabilität zugrunde und errechnet auf dieser Basis Ertragssteuern für 2019 von 180 Millionen Euro. „Insgesamt ist das natürlich sehr wenig“, resümiert der Steuerexperte. Das liege aber auch daran, dass Amazon lange auf dem Papier kaum Gewinne gemacht und lieber in Wertsteigerungen investiert hat, die wiederum auf Ebene der Eigentümer versteuert werden müssten. Fazit: Amazon schafft mit seinen Angaben eher eine Scheintransparenz.
Helfer für den Handel?
Amazon sieht sich nicht als Bedrohung des stationären Handels – sondern als Unterstützer, der angestammten Geschäften den Weg ins Digitale bahnt. „Zehntausende deutsche kleine und mittelständische Unternehmen verkaufen schon bei Amazon“, wirbt das Unternehmen. Mehr als 80 Prozent exportierten demnach ihre Waren an Kundinnen und Kunden weltweit.
Das Problem ist jedoch, dass Amazon den Markt praktisch dominiert – und viele kleine Händler am Onlineriesen und seinen Bedingungen kaum vorbeikommen. Laut der Studie „E-Commerce Germany“ wickelte Amazon im zweiten Halbjahr 2019, also vor der Pandemie, bereits 40 Prozent über seine Plattform ab. Auch die Kommunikation mit den Kunden läuft beim Amazon-Marketplace komplett über Amazon. „Viele Händler und Hersteller sind beim Onlinevertrieb auf die Reichweite des Amazon- Marktplatzes angewiesen“, sagt Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes. Jedoch bringe die „Doppelrolle als größter Händler und größter Marktplatz auch das Potenzial für Behinderungen von anderen Händlern auf der Plattform“.
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Wenn Jeff Bezos im dritten Quartal 2021 als CEO von Amazon zurücktritt, wird ihm Andy Jassy nachfolgen.
© Quelle: Patrick Fallon/ZUMA Wire/dpa
Deshalb hat sich das Bundeskartellamt Amazon bereits mehrmals vorgenommen. Nach zahlreichen Beschwerden von Händlern hat die Behörde 2018 ein Missbrauchsverfahren gegen Amazon eingeleitet; 2019 hat der Konzern daraufhin seine Allgemeinen Geschäftsbedingungen in vielen Punkten geändert.
Derzeit bestätigt die oberste Kartellbehörde gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland zwei weitere laufende Verfahren gegen Amazon. Eines betrifft die Zusammenarbeit von Amazon mit Markenherstellern wie Apple, um Dritthändler ohne Lizenz vom Verkauf auszuschließen. In dem anderen Fall geht es darum, dass Amazon Händler wegen angeblich überhöhter Preise gesperrt hat.
Beide Fälle zeigen aber auch, dass es schwierig ist, das Vorgehen von Amazon eindeutig zu bewerten: So liegt es durchaus auch im Interesse der Kunden, vor Produktpiraterie geschützt zu sein. Zudem hatte es während der Pandemie tatsächlich viele Fälle von Wucher gegeben, für Waren, die als knapp galten. Jetzt aber waren viele Händler betroffen, für deren Produkte dies nicht galt – und die nun keine Chance hatten, sich zu wehren. „Da kann man schon eine Schieflage sehen“, sagte E-Commerce-Experte Mark Steier dem „Handelsblatt“. „Die Probleme gehen ausschließlich zulasten der Handelspartner.“
Amazon, der Klimaschützer
Jeff Bezos griff beherzt in seine eigene Tasche. 10 Milliarden Dollar, so kündigte er im vergangenen Jahr an, werde er in den Bezos Earth Fund stecken, um den Kampf gegen den Klimawandel zu unterstützen. Dazu gab er ein Versprechen ab: Amazon werde bis 2040 klimaneutral werden, also schon ein Jahrzehnt vor der Zielmarke im Pariser Klimaabkommen. Ausgerechnet der größte aller Versandhändler, dessen Umweltbilanz von jeher als besonders schlecht gilt, will der grüne Engel werden?
Umweltverbände halten die Ankündigung jedoch zunächst mal für ein großes PR-Manöver, von dem nicht klar ist, ob es dem Klima irgendwann etwas bringt. „Eines der größten Greenwashing-Projekte, die je auf den Weg gebracht wurden“, nennt Viola Wohlgemuth, Konsumexpertin von Greenpeace Deutschland Amazons „Climate Pledge“, das Klimaversprechen.
Tatsächlich sei zumindest die Gegenwart reichlich düster: So seien Amazons CO₂-Emissionen allein im Jahr 2019 um 15 Prozent gestiegen. Das meiste Geld verdient Amazon inzwischen mit Serverkapazitäten; viele neue Rechenzentren habe das Unternehmen jedoch ausgerechnet in Gegenden mit wenigen erneuerbaren Energien aufgebaut, wie etwa North Virginia. Bislang sei auch unklar, ob Amazon seine CO₂-Bilanz durch Kompensationsmodelle oder echte Vermeidung erreichen will. Dazu kommen große Mengen Verpackungsmüll und zahlreiche zusätzliche Wege durch kleine rasche Lieferungen. „Amazon trägt zurzeit deutlich mehr zur Beschleunigung als zur Lösung der Klimakrise bei“, sagt Wohlgemuth. Das alles ist noch kein Beleg, dass Amazon seine Klimaziele nicht umsetzt – die Skepsis jedoch ist bislang groß.
Amazon und die Kultur
Der Buchversand hat Amazon anfangs groß gemacht – das Verhältnis zu den traditionellen Vertreibern von Literatur, den Buchhändlern, war deshalb von Anfang an angespannt. Zugleich jedoch gibt sich Amazon als Förderer der Kultur: Autoren und Autorinnen, Filmemacherinnen und Filmemacher sowie andere Kreativpartner könnten direkt über Amazon veröffentlichen und „bis zu 70 Prozent der Einnahmen behalten“. Das klingt geradezu selbstlos. Amazon, der Mäzen?
Auf Youtube berichten Autoren von Büchern, mit denen sie fünfstellige Beträge im Monat einnehmen. Vor allem jedoch versprechen Coaches, dass sie ihre Kunden dazu bringen, ähnlich viel Geld zu verdienen.
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Die Anfänge: Zu Beginn konzentrierte sich Amazon auf den Versand von Büchern.
© Quelle: Frank Rumpenhorst/dpa
Die Marktmacht von Amazon ist auch auf diesem Sektor gewaltig. „Wenn man mit seinen Büchern versucht, Geld zu verdienen, kommt mal als Selfpublisher und Selfpublisherin um Amazon nicht herum“, erklärt Lena Falkenhagen, Bundesvorsitzende des Verbandes deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS). Zu beherrschend sei Amazons Stellung mit einem Marktanteil zwischen 60 und 70 Prozent.
Letztlich biete Amazon Autoren die Chance, an den Verlagen, den traditionellen Nadelöhren, vorbei, die Öffentlichkeit zu erreichen – und einige von ihnen könnten „durchaus ordentlich Geld verdienen“, resümiert Valentin Döring, der Geschäftsführer des VS. „Die meisten jedoch verdienen sehr wenig.“ Gleichsam als Nebeneffekt werde der traditionelle Buchmarkt massiv unter Druck gesetzt.
Aber genau das ist auf nahezu allen Ebenen eben das Programm des Konzerns. Es ist das Phänomen, das nach ihm benannt wurde: Amazonisierung.