Mobilitätsforscher: „Deutschlands Autoindustrie braucht dringend eine Wachstumsstory“
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Marke der Zukunft: das chinesische Unternehmen – hier die neue E-Limousine ET7, die im Januar 2021 vorgestellt wurde.
© Quelle: Nio
Der renommierte Mobilitätsforscher Stefan Bratzel sieht Chinesen und Amerikaner deutlich vor den deutschen Automobilherstellern. Prof. Dr. Stefan Bratzel ist Gründer und Direktor des unabhängigen Forschungsinstituts Center of Automotive Management an der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach. Der 54-jährige Wissenschaftler gilt als einer der wichtigsten unabhängigen Automobilexperten und Branchenkenner in Deutschland. Bratzel befasst sich in seinen Forschungen mit den Erfolgs- und Überlebensbedingungen von Autoherstellern und Zulieferern sowie den Zukunftsfragen der Mobilität.
Herr Prof. Bratzel, die ersten chinesischen Autos kommen bei uns auf den Markt. Es gibt bereits Stimmen, die vor einer Modellflut aus Asien warnen. Ist das übertrieben?
Prof. Stefan Bratzel: Wir müssen die chinesischen Autohersteller vor allem im Bereich der Elektromobilität ernst nehmen. Da gibt es einige mit interessanten Technologien. Die Chinesen haben aus den ersten negativen Erfahrungen viel gelernt und wollen jetzt den Zugang zum europäischen Markt. Allerdings wird es kein Selbstläufer sein, weil der europäische Markt bereits dicht besetzt ist und immer mehr einheimische Marken mit neuen E-Autos kommen. Am Ende des Tages werden wir aber neben Geely/Volvo und Polestar auch andere Marken aus China hierzulande sehen.
Sie sprechen von Technologien. Welche meinen Sie?
Beim Thema Elektroauto spielen die Reichweite und damit die Batterietechnologie nach wir vor eine wichtige Rolle. In den nächsten Jahren sind hier große Fortschritte zu erwarten. Nio hat beispielsweise eine Festkörperbatterie für 2022 angekündigt mit Reichweiten um die 1000 Kilometer. Das wäre eine radikale Innovation mit einem entsprechenden Einfluss auf den Markt. Auch beim Thema Vernetzung sind die Chinesen vielfach viel weiter als wir, weil das Thema dort schon seit Jahren eine höhere Bedeutung hat als bei uns.
Eine Marke wie Polestar ordnen Sie als chinesisches Auto ein. Dabei haben die Europäer bei der Entwicklung weitestgehend freie Hand.
Fakt ist: Geely ist ein chinesischer Hersteller und damit der Eigentümer von Volvo und Polestar. Und natürlich ist es eine interessante Strategie, dass sie Europa einiges an Freiheiten lassen. Trotzdem gibt es Vorgaben. Das ist wie bei Opel. Das war eine deutsche Marke, dann jahrelang unter der Herrschaft von General Motors und gehört jetzt zu PSA. Und natürlich ist die Handlungsfähigkeit immer abhängig von der Mutter. Wenn Tesla jetzt in Deutschland ein großes Werk aufbaut, ist das ja noch lange kein deutscher Hersteller. Das Gleiche gilt in umgekehrter Weise für Volkswagen in China.
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Prof. Stefan Bratzel ist Direktor und Gründer des Centers of Automotive Management (CAM).
© Quelle: CAM
Es gibt ja schon zahlreiche Joint Ventures zwischen europäischen Marken und chinesischen Herstellern. Werden die Markenprofile mit der Zeit nicht verwässert?
Man muss sich die einzelnen Joint Ventures genauer anschauen. Daimler und Geely teilen sich Smart jeweils zur Hälfte und es ist klar, dass Geely in dieser Konstellation künftig eine Rolle spielen wird. Und genauso müssen sich Unternehmen den Marktbedingungen anpassen und verändern. Aber eine allgemein gültige Tendenz sehe ich da nicht.
Wenn die Chinesen in Europa und in Deutschland mit eigenen Modellen und Marken Fuß fassen wollen, wie muss man sich eine solche Markteinführung vorstellen? Schließlich braucht es dafür mehr als nur ein paar Autos.
Die Chinesen haben einen großen Vorteil: Sie können vom Markteintritt von Tesla lernen und natürlich brauchen sie ein Vertriebs- und Servicenetz. Genau aus diesem Grund wird es kein Selbstläufer sein. Viele werden aber das Thema Onlinevertrieb vorantreiben und im Servicebereich Kooperationen mit anderen Playern eingehen. Weil man beim ersten Versuch nicht darauf geachtet hat, dass die europäischen Kunden anspruchsvoll sind, wird man das bei der zweiten Welle berücksichtigen und erfolgreicher sein.
Werden europäische Kunden auf chinesische Autos überhaupt positiv reagieren? Schon die Japaner hatten seinerzeit ja große Schwierigkeiten nach Europa zu kommen.
Ja, bei Toyota hat es damals sehr lange gedauert bis sie das Reisschüsselimage ablegen konnten. Aber bei Hyundai ging es schon viel schneller. Die Chinesen werden bei uns von vielen kritisch beäugt, umso mehr werden sie sich ins Zeug legen. Für sie gibt es zwei Wege: Zum einen den Tesla-Weg über innovative Technologien, die andere nicht haben, und zum anderen über günstige Preise. Vor allem aber muss die Qualität stimmen. Da gibt es Mittel und Wege, beispielsweise so etwas wie die Siebenjahresgarantie, die Kia bietet. Die Elektromobilität bietet ihnen jetzt eine große Chance, weil dieser Markt neu ist.
In welchen Segmenten könnten die Chinesen denn erfolgreich sein?
Tesla hat das mit seinem Top-down-Ansatz sehr geschickt gemacht. Sie sind in oberen Segmenten eingestiegen und haben sich dann schrittweise in preissensiblere Segmente vorgewagt. Player wie Nio oder Lucid werden einen ähnlichen Weg gehen. Dort sind die Gewinnspannen im ersten Schritt etwas größer, interessante Neuerungen lassen sich auch besser präsentieren. Aber natürlich wird nicht jeder im Hochpreissegment unterwegs sein, auch weil hier die deutschen Premiumhersteller mittlerweile relativ stark dabei sind.
Die Chinesen betreiben eine aggressive Wirtschaftspolitik, beispielsweise mit dem Ausbau der neuen Seidenstraße. Könnte es nicht auch ideologische Vorbehalte gegen Produkte aus China geben?
Ich glaube nicht, dass politische Erwägungen beim Kunden eine Rolle spielen. Da geht es dann eher um den Preis. Das Thema beschäftigt mich trotzdem, allerdings eher umgekehrt. Denn es gibt etwas, was durchaus ein Problem werden könnte: Hersteller wie Volkswagen oder auch Daimler verdienen einen Großteil ihres Geldes in China, was sie verwundbar macht. Man wächst, dort ist der größte Markt, aber je stärker man von diesem Markt abhängt, desto anfälliger, vielleicht auch erpressbarer, wird man. Wenn man China dazu bringt, die Wertesysteme des Welthandels zu akzeptieren, und wenn große chinesische Autokonzerne ihre Produkte auch bei uns verkaufen wollen, könnte das von Vorteil sein.
Auf den Technologiefeldern der Zukunft wie dem autonomen Fahren sind in erster Linie amerikanische und chinesische IT-Spezialisten unterwegs. Sind die deutschen Hersteller bereits abgehängt?
Die Themen Vernetzung, Fahrzeugarchitektur, Software oder Dienstleistungen sind tatsächlich anspruchsvoller als die Transformation zur Elektromobilität. Die etablierten Autobauer, die in ihrem Universum lange Zeit ganz allein waren, machen plötzlich die Erfahrungen, dass ihre Welt um das Big-Data-Universum erweitert wird. Diese Herausforderung ist riesig, weil es um neue Geschäftsmodelle geht, die sehr stark von Software und vernetzten Dienstleistungen bestimmt werden. Da liegen die Wertschöpfung und das Geld der Zukunft. Die Deutschen sind da mindestens zwei, drei Jahre hinterher, doch Unternehmen wie Volkswagen und Daimler arbeiten ja an Fahrzeugarchitekturen mit einem hohen Eigenanteil an Software. Trotzdem wird es ein ganz harter Kampf werden.
Wenn man sich Waymo anguckt, die in den USA bereits autonom auf öffentlichen Straßen fahren und dann Daimler, die eine S-Klasse fahrerlos in einem Parkhaus verschwinden lassen, kommt man doch auf den Gedanken, dass der deutsche Ansatz eventuell der falsche sein könnte.
Man muss hier zwischen dem bisherigen Ownership-Geschäftsmodell, nachdem man ein Auto noch besitzt, und dem Sharingmodell unterscheiden, das als Dienstleister noch ein bisschen in die Zukunft weist. Ich rechne damit, dass letzteres erst in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre in der Breite umgesetzt wird. Wer da nicht aktiv ist, und es geht hier um nicht weniger als das zentrale Mobilitätsmodell der Zukunft, ist ganz schnell draußen. Das kann tatsächlich kritisch werden, weil hier die ganz großen Akteure wie Google oder Amazon als Wettbewerber auftreten. Das sind multiple Herausforderungen, die es für die etablierten Hersteller zu bewältigen gilt. Die Chancen, ob Player wie Volkswagen, Toyota oder Daimler in zehn Jahren bei den großen Fragen der Mobilität noch eine Rolle spielen, schätze ich 50 zu 50 ein.
Volkswagen oder Daimler müssen auf ihre Aktionäre Rücksicht nehmen und jetzt Geschäftserfolge liefern. Ist das eine Strategie, um auch in der Zukunft bestehen zu können?
Nimmt man den Amazon-Ansatz, die in den ersten fünfzehn Jahren nichts verdient haben und jetzt nach Belieben Geld scheffeln, sieht man, wie sich die großen Digitalplayer in dieser Welt bewegen. Und am Ende gilt: The Winner Takes It All, der Gewinner bekommt alles, da müssen die Etablierten aufpassen, dass sie nicht zu kurzsichtig agieren. Wenn man auf die Marktkapitalisierungstrends der vergangen sechs Jahre sieht, hat man bei etablierten Playern praktisch eine Nulllinie, die großen Digitalplayer sind dagegen um ein Vielfaches an Marktwert gestiegen. Unsere Automobilhersteller müssen unbedingt wieder eine Wachstumsstory entwickeln, nur dann werden Investoren bereit sein, auch an sie zu glauben.