Spekulationen an den Energiebörsen: der perfekte Sturm
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Die Gaskrise und ihre Folgen: Im Großhandel stieg der Preis vorübergehend um 1000 Prozent im Jahresvergleich. Grund waren auch Spekulationen.
© Quelle: Marijan Murat/dpa
Frankfurt am Main. Wenn es besonders heftig wird, dann sprechen Meteorologen von einem perfekten Sturm. Diese Bezeichnung ist längst auch in die Welt der Börsianer eingesickert, um eine seltene Kombination ungünstiger Faktoren zu beschreiben, die sich gegenseitig hochschaukeln. Beispiel Erdgasmarkt: Ein Energieunternehmen, das am Dienstag den Brennstoff zur Lieferung im September kaufen wollte, musste für eine Megawattstunde 265 Euro zahlen. Das waren rund 860 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Am Montag war zeitweise sogar ein Plus von 1000 Prozent erreicht worden.
Wie kann das sein? Natürlich spielen da Spekulationen an den Energiebörsen eine Rolle. Und die neigen unvermeidbar zu Übertreibungen. Der Herdentrieb entsteht dadurch, dass die Händler sich ständig gegenseitig belauern und jeder der Erste sein will, der die künftigen Entwicklungen antizipiert.
Lieferunterbrechung heizt Spekulationen an
Aber: Zu Spekulationen gehören auch plausible Erzählungen, und die derzeit marktgängige hat im Falle des Erdgases den Charakter eines perfekten Sturms: Gazprom hat angekündigt, Ende August die Lieferungen über die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 für drei Tage auszusetzen wegen angeblicher Wartungsarbeiten. Danach werde wieder gen Westen gepumpt – sofern es keine Fehlfunktionen gebe. Womit der russische Staatsmonopolist vieles offen lässt und Mutmaßungen über ein gänzliches und dauerhaftes Zudrehen des Gashahns ins Kraut schießen lässt.
Hinzu kommen aktuell die Hitzewellen mit Niedrigwasser in den Flüssen, was unter anderem den Transport von Ersatzbrennstoffen (Öl, Kohle) und das Betreiben von Atomkraftwerken erschwert. Dies nährt die Vermutung, dass Gaskraftwerke demnächst doch noch verstärkt benötigt werden könnten.
Und dann gibt es da noch die Gasspeicher, die mit verstärkten Anstrengungen so schnell wie möglich und buchstäblich um jeden Preis gefüllt werden sollen. Orchestriert wird dies von einer Debatte darüber, dass Industriebetrieben die Gasversorgung nicht abgedreht werden dürfe, den Privathaushalten aber auch nicht.
Kanada und Deutschland wollen Zusammenarbeit verstärken
Justin Trudeau sagte nach einem Treffen mit Kanzler Olaf Scholz die Prüfung von Flüssiggas-Lieferungen nach Deutschland und Europa zu.
© Quelle: Reuters
Ferner stellt sich die Frage, wie es um verflüssigtes Erdgas (LNG) per Schiff bestellt ist, das als Ersatz für russische Lieferungen herhalten soll. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat versprochen, dass die ersten beiden LNG-Terminals zum Jahreswechsel ihren Betrieb aufnehmen – was Insider für sehr sportlich halten. Die Gefahr eines bitterkalten Winters tut ein Übriges, damit Trader an den Energiebörsen unverdrossen an steigende Preise glauben.
Doch die sind bestimmt nicht allein verantwortlich für die astronomischen Aufschläge. „Ich habe aufgehört, diesen Markt verstehen zu wollen“, lässt sich ein Händler vom Finanzdienstleister S&P Global zitieren. Er und seine Kollegen orientierten sich nur noch an der tagesaktuellen Lage. Auch eine noch so kleine Meldung über die Versorgungslage löse mittlerweile Preissprünge aus.
Warnungen und Sparappelle wirken als zusätzliche Preistreiber
Eine ganz besondere Rolle spielen dabei die Regierungen und Behörden mit ihren Endlosschleifen aus Warnungen und Sparappellen. Branchenkenner gehen davon aus, dass damit im perfekten Sturm noch zusätzlich Wind gemacht wird. Am Dienstag etwa war zu hören, dass die geplanten Füllstände der Gasspeicher (95 Prozent bis Anfang November) nicht für alle unterirdischen Reservoire erreicht werden könnten und dass die Gasumlage schon zur Jahreswende erhöht werden müsse – die Abgabe soll den Markt stabilisieren, indem Importeuren die Mehrkosten beim Beschaffen von Ersatz für russisches Gas erstattet werden. Auch diese Subvention könnte letztlich preistreibend wirken. Ebenso wie die beschlossene Ermäßigung der Mehrwertsteuer auf Erdgas.
Was zeigt, dass die Politik in einem perfekten Sturm viel falsch, aber nur wenig richtig machen kann. Und wie kommen wir da wieder raus? Immer deutlicher wird erkennbar, dass die Energiekrise mindestens zwei Jahre anhalten wird – sofern sie nicht durch eine noch schlimmere Krise, nämlich eine tiefe Rezession abgelöst wird. Zwei Jahre wird es mindestens dauern, bis sich Europa vom russischen Gas unabhängig gemacht und neues robustes Versorgungssystem aufgebaut hat, das auf LNG basiert. Dann könnte auch der Moment kommen, da die Spekulationen auf steigende Notierungen implodieren und der Gaspreis gewissermaßen ins Bergfreie stürzt. Doch derzeit traut sich niemand, darauf zu wetten.
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