Steigende Preise in der Türkei: das Gift der Geldentwertung
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Eine Frau hält US-Dollar-Noten in der Hand, während sie in einer Wechselstube türkische Lira wechselt. Die angeschlagene türkische Währung sorgt für steigende Preise und immer mehr Menschen, die im Land verarmen.
© Quelle: Emrah Gurel/AP/dpa
Ankara. 8200 Lira Rente bekommt Selma S., umgerechnet knapp 285 Euro. 7900 Lira beträgt die Miete für ihre winziges Ein-Zimmer-Altbauwohnung im Istanbuler Stadtteil Beyoglu. Dazu kommen Heizkosten, Strom, Wasser. Überleben kann die 72-jährige Witwe nur, weil ihre beiden Töchter sie finanziell unterstützen. Die Notlage der alten Frau ist vor allem ein Ergebnis der Inflation. Im August betrug sie fast 58,9 Prozent, nach fast 48 Prozent im Juli. Und die offiziellen Zahlen sind wohl geschönt. Die regierungsunabhängige Forschungsgruppe Enag bezifferte die tatsächliche Teuerung bereits im Juli auf 122,9 Prozent.
Die Geldentwertung treibt immer mehr Menschen in die Verarmung. Nach Berechnungen des Gewerkschaftsbundes Birlesik Kamu-Is liegt die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie bei 38.273 Lira, umgerechnet 1328 Euro. So viel braucht ein Ehepaar mit zwei Kindern monatlich für Miete, Nebenkosten, Kleidung und Lebensmittel. Um auf diesen Betrag zu kommen, müssten mindestens drei Familienmitglieder den staatlichen Mindestlohn verdienen. Er wurde zum 1. Juli auf 11.402 Lira heraufgesetzt, umgerechnet 395,60 Euro. Vier von zehn Menschen in der Türkei müssen damit auskommen. Doch der Mindestlohn reicht in Großstädten wie Istanbul meist nicht einmal für die Miete.
Erdogans bizarre Wirtschaftspolitik
Der Kaufkraftschwund ist das Ergebnis der bizarren Wirtschaftspolitik, die Erdogan in den vergangenen Jahren verfolgte. Er vertritt die These, dass man die Inflation am besten mit Zinssenkungen bekämpft. Die geltende ökonomische Lehrmeinung sagt das genaue Gegenteil. Vor allem vor den Wahlen im Mai flutete Erdogan das Land mit billigem Geld, um den Eindruck einer florierenden Wirtschaft zu erwecken. Jetzt wirft er das Ruder herum: Erdogan berief den früheren Investmentbanker Mehmet Simsek zum Finanzminister und vertraute die Führung der Zentralbank einer türkischen Bankerin aus den USA an. Sie erhöhte den Leitzins von 8,5 auf 25 Prozent. Kredite verteuern sich dadurch, die Unternehmen investieren weniger. Das Land könnte in eine Rezession rutschen. Aber die Preise steigen weiter. Die Notenbankchefin erwartet zum Jahresende eine Inflationsrate von 58 Prozent.
Für ausländische Besucher und Besucherinnen wird die Teuerung zum Teil durch die Abwertung der Lira ausgeglichen. Bekam man vor einem Jahr für einen Euro 18 Lira, gibt es jetzt pro Euro 29 Lira. Dennoch waren Pauschalreisen in die Türkei im ersten Halbjahr in Euro durchschnittlich 11 Prozent teurer als im Vorjahr. Wer individuell Türkei-Urlaub macht, spürt die Inflation noch stärker: Nach Angaben des Datendienstleisters STR Global sind die Tagespreise für Hotelzimmer in Antalya jetzt 37 Prozent höher als vor einem Jahr – in Euro gerechnet. Im Restaurant kann die Rechnung rund doppelt so hoch ausfallen kann wie vor einem Jahr. Wer mit dem Mietwagen an die Tankstelle fährt, wird sich wundern: Allein seit den Wahlen im Mai haben sich die Spritpreise verdoppelt.
Urlaubsländer wie Spanien und Griechenland unterbieten inzwischen bei manchen Angeboten die früher viel billigere Türkei. Das nutzen auch immer mehr Türkinnen und Türken: Sie fahren per Schiff zu einer der griechischen Ägäisinseln, weil dort die Ferien billiger sind als im eigenen Land.