Oktober wäre besonders hart

Was passiert, wenn Putin das Gas abdreht? Studie zeichnet düsteres Szenario

Die Stahlproduktion wäre von einem Gaslieferstopp besonders betroffen.

Die Stahlproduktion wäre von einem Gaslieferstopp besonders betroffen.

München. Michael Böhmer verwahrt sich dagegen, Apokalyptiker zu sein. „Wir sind überzeugt, einer möglichen Realität sehr nahezukommen“, sagt der Chefvolkswirt des Baseler Analysehauses Prognos. Das hat im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft eine Studie zu Folgen eines Komplettlieferstopps russischen Gases für Deutschland berechnet. „Die Abhängigkeit vom russischen Gas ist bislang dramatisch unterschätzt worden“, bilanziert Böhmer. Berechnet hat Prognos die Auswirkungen eines Lieferstopps für das zweite Halbjahr 2022. In dem Zeitraum würde die deutsche Wirtschaftsleistung um 12,7 Prozent sinken. 193 Milliarden Euro Wertschöpfungsverlust bedeutet das. Bisherige Studien haben vergleichbar ein Minus von maximal 8 Prozent berechnet, stellt Böhmer klar.

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Der große Unterschied zu anderen Studien ist vor allem der Betrachtung technischer Realitäten geschuldet. „Wir haben sehr detailliert die Ebene der Produktionsprozesse analysiert und nicht wie andere Studien nur branchenspezifische Durchschnittswerte verwendet“, sagt Böhmer. Er erklärt das an einem Beispiel aus der Stahlindustrie. Die brauche prozentual gar nicht so viel Gas, sei aber bei Walzwerken völlig davon abhängig. An dieser Stelle würde in der Stahlindustrie die Produktionskette ohne Gas abrupt reißen.

Auch die Annahme, dass der russische Gasfluss ab Juli versiegt, ist nicht willkürlich. Die Gaspipeline North Stream 1 wird ab Mitte Juli zu Wartungszwecken abgeschaltet. Ob sie danach wieder anläuft, bezweifeln Experten und Politiker. Kommt es zum Gasstopp, würde ungeschützten Kunden wie der Industrie von heute auf morgen gut die Hälfte des benötigten Gases fehlen, hat Prognos berechnet. Andere Studie kommen hier nur auf maximal 30 Pro­zent Gasmangel. Geschützten Kunden, zu denen private Haushalte oder Krankenhäuser zählen, würden laut Prognos 7 Prozent fehlen.

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Bei der Berechnung dieser Werte haben die Baseler wichtige Annahmen getroffen. Dazu zählt, dass etwa ein Viertel des bisherigen Gasverbrauchs eingespart oder ersetzt werden kann. Das sei ein optimistischer Wert, findet Böhmer. Prognos gehe ferner davon aus, dass deutsche Gasspeicher bis November wie gesetzlich verlangt, zu 90 Prozent gefüllt werden und nachgelagerte Effekte in der Wirtschaft zu 60 bis 90 Prozent aufgefangen werden können.

Letzteres erklärt Böhmer am Beispiel der chemischen Industrie, die bei einem Gaslieferstopp nicht mehr wie bisher Lacke für die Autoindustrie liefern könne. Prognos unterstellt, dass Autobauer kurzfristig bis zu 90 Prozent benötigter Lacke über alternative Quellen aus dem Ausland besorgen können, was Böhmer ebenfalls optimistisch nennt. Bei der Nutzung von Flüssiggas über Terminals aus den Niederlanden oder Belgien und transeuropäische Gasnetze sei Prognos dagegen eher pessimistisch gewesen. „Wir wollten kein Extremszenario rechnen, sondern der Realität nahekommen“, erklärt Böhmer. Deshalb habe man auch einen normalen Winter 2022/2023 unterstellt.

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Der härteste Monat wäre der Oktober

„Man kann sich alles noch schlimmer ausmalen“, warnt der Experte. Schlimmster Monat im zweiten Halbjahr 2022 wäre bei einem russischen Lieferstopp der Oktober, betont er. Denn in dem Monat müssten deutsche Gasspeicher noch befüllt werden, aber die Heizperiode und damit die Phase steigenden Gasverbrauchs beginne bereits.

Dieser Notstand hätte natürlich auch Auswirkungen auf die Beschäftigung. Im beschriebenen Szenario wären in Deutschland rund 5,6 Millionen Arbeitsplätze betroffen, voraussichtlich erst einmal von Kurzarbeit. „In zwölf bis 15 Branchen spielt Gas eine größere Rolle“, erklärt Böhmer. Dazu zählten die Industrien Chemie, Glas, Stahl oder Lebensmittelverarbeitung, aber hinsichtlich Folgeeffekten in der Lieferkette auch die Autoindustrie und der Dienstleistungs­sektor. Eine tiefe Rezession in Deutschland wäre fraglos die Folge.

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„Das Ganze ist ein Szenario und keine Prognose“, stellt Böhmer klar. Klar sei auch, dass mit Jahresende 2022 ein Gasnotstand nicht enden würde. Für die Zeit danach habe Prognos aber keine Berechnungen angestellt. Die Effekte würden im Zeitverlauf abnehmen, weil russisches Gas zunehmend ersetzt werden könne. Besser sei aus diesem Grund auch, je länger ein völliger russischer Lieferstopp auf sich warten lasse.

Vermindern könne man die negativen Effekte auf die Wirtschaft dadurch, dass verfügbares Gas in der Wirtschaft nicht per Gießkanne verteilt wird, sagt Böhmer. Branchen die relativ große Abstrahleffekte entlang der Lieferkette haben, aber selbst wie die Glasindustrie absolut gesehen relativ wenig Gas brauchen, könnten bevorzugt bedient werden. Politisch sei das aber wohl schwer durchzusetzen, schätzt der Experte.

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