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Interview mit dem Verdi-Chef

Rückt die Viertagewoche näher, Herr Werneke?

Frank Werneke, Vorsitzender der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi.

Frank Werneke, Vorsitzender der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi.

Berlin. Die Arbeitswelt wird sich verändern, da ist sich Frank Werneke sicher. Beim Einsatz von künstlicher Intelligenz brauche es deshalb klare Regeln, findet der Verdi-Chef. Seit vier Jahren steht der 56-Jährige an der Spitze von Deutschlands zweitgrößter Gewerkschaft. Im RND-Interview spricht er über die Lage der deutschen Wirtschaft, über die Viertagewoche in der Dienstleistungsbranche und über den anstehenden Bundeskongress, bei dem er zur Wiederwahl steht.

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Herr Werneke, die deutsche Wirtschaft steckt in der Flaute fest, die Rede ist gar vom „kranken Mann“ Europas. Wie ist die Lage aus Ihrer Sicht?

Das Gerede vom kranken Mann Europas halte ich für ein durchsichtiges Manöver. Damit versuchen die Wirtschaftsverbände mit einem Narrativ in ihrem Sinne politisch Einfluss zu nehmen, das durch die Fakten nicht gedeckt ist. Richtig ist, dass wir derzeit eine schwierige wirtschaftliche Situation haben, die auf die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank zurückzuführen ist. Die hohen Zinsen würgen Investitionen ab, das ist aber kein rein deutsches Problem. Allerdings kommen hier zwei besondere Faktoren hinzu: Bis vor Kurzem die fast junkiemäßige Abhängigkeit der deutschen Großindustrie vom billigen russischen Gas und die starke Orientierung auf Exporte, insbesondere nach China.

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Was muss jetzt passieren?

Die Nachfrage muss stimuliert werden und da spielt die Kaufkraft der Bevölkerung eine wichtige Rolle. Für die Sicherung des Wohlstandes in Deutschland müssen wir uns mittelfristig aber auch darauf einstellen, ein anderes Verhältnis zwischen dem produzierenden Gewerbe und Dienstleistungen zu organisieren. Das Wachstum in Deutschland darf nicht von der Entwicklung auf einigen wenigen Exportmärkten abhängig sein. Und gleichzeitig sind hochwertige Dienstleistungen etwas, das in Deutschland Entwicklungspotenzial hat.

Die Ministerpräsidenten sehen einen Hebel im Industriestrompreis, für den sie jetzt in Brüssel geworden haben. Günstigere Energie für die Industrie – ist das sinnvoll?

Von einem reinen Industriestrompreis kann ich den politischen Akteuren nur abraten. Es hätte enorme Sprengkraft, wenn ein Bürger, der mit dem gesetzlichen Mindestlohn gerade so über die Runden kommt, für seinen Strom 35 Cent die Kilowattstunde zahlt, während die Großindustrie mittels staatlicher Subventionen nur 5 oder 6 Cent zahlt. Und die Aktionäre der Konzerne würden dann nebenbei fröhlich weiter bedient.

Zwar müssen die Strompreise weiter gedämpft werden, aber das darf sich auf keinen Fall nur auf die Industrie beziehen. Das wäre sozialpolitisch nicht verantwortbar. Es braucht einen deutlich breiteren Ansatz. Auch beispielsweise in Sozialeinrichtungen oder dem Gesundheitswesen ist der Handlungsbedarf groß und natürlich auch bei vielen privaten Haushalten.

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Bleiben wir beim Mindestlohn. Der soll ab 2024 in zwei Schritten auf 12,82 Euro steigen. Wirtschaftsminister Robert Habeck findet, das sei zu wenig. Sie auch?

Diese Erhöhung ist definitiv zu niedrig. Die Empfehlung der Mindestlohnkommission ist gegen die Stimmen der Gewerkschaften entschieden worden. Und sie widerspricht der Vorgabe der Europäischen Union, die sich an 60 Prozent des Medianeinkommens orientiert. Deshalb ist es notwendig, dass der Mindestlohn im nächsten Schritt auf 14 Euro steigt. Die Bundesregierung muss handeln, schon allein deshalb, damit die Politikverdrossenheit nicht weiter zunimmt.

Deutschlands Wirtschaft tritt auf der Stelle. Verdi-Chef Frank Werneke hält von Begriffen wie dem "kranken Mann Europas" allerdings wenig.

Deutschlands Wirtschaft tritt auf der Stelle. Verdi-Chef Frank Werneke hält von Begriffen wie dem "kranken Mann Europas" allerdings wenig.

Inwiefern?

Es gibt Regionen in Deutschland, in denen 30 bis 40 Prozent aller Beschäftigten vom Mindestlohn leben. Wenn es dort keine vernünftige Lohnentwicklung gibt, die die Kaufkraft sichert und vor Altersarmut schützt, führt das zu einer Verdrossenheit gegenüber dem politischen System, die in vielen Orten bereits spürbar ist.

Höhere Löhne also, um Leute zurückzuholen, die von der Politik enttäuscht sind?

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Natürlich ist vieles nicht monokausal und es gibt keine einfachen Antworten. Aber ich sage mal so: Eine zu niedrige Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns ist sicherlich nichts, was das Wachstum der AfD einschränkt.

Es gibt Regionen in Deutschland, in denen 30 bis 40 Prozent aller Beschäftigten vom Mindestlohn leben

Verdi-Vorsitzender Frank Werneke

Vielen Arbeitnehmern geht es nicht nur um Löhne, sondern auch um die Arbeitszeit. Rückt jetzt die Viertagewoche näher, weil die IG Metall dafür kämpft?

In der Stahlindustrie haben wir es mit einem 24-Stunden-Schichtmodell zu tun, das auf andere Branchen nicht ohne Weiteres übertragbar ist. Für die Dienstleistungsbranchen sehe ich die Viertagewoche nicht als generelles Arbeitsmodell. Historisch betrachtet hat jeder Schritt der Arbeitszeitverkürzung auch immer etwas in der Lohnentwicklung gekostet. In den aktuellen Tarifrunden stellen wir wegen der Inflationsentwicklung die Einkommensfrage in den Vordergrund. Ich bin mir aber sicher, dass mittelfristig die Arbeitszeitfrage auch in den Dienstleistungsbranchen weiter an Bedeutung gewinnen wird.

Gerade erst hat die Ampelkoalition um den Haushalt gerungen. Wie blicken Sie auf die Haushaltsdebatte?

Aus meiner Sicht werden die falschen Weichen gestellt. Fangen wir damit an, dass etwa die Ausgaben für politische Bildung sinken sollen oder dass die Pflegeversicherung nicht ausreichend steuerlich finanziert wird. Ähnlich sieht es bei der gesetzlichen Krankenversicherung aus, was zu steigenden Beiträgen führen wird. Mit Blick auf die Kaufkraft und die Binnenkonjunktur ist das die falsche Entwicklung. Dies ist eine Fehlsteuerung, die mit dem Dogma der Schuldenbremse zu tun hat. Ich halte das für grundfalsch. In der Haushaltspolitik erleben wir einen Durchmarsch der FDP und ein relativ ohnmächtiges Handeln von Grünen und SPD.

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ARCHIV - 07.11.2017, Sachsen-Anhalt, Brumby: Ein Schweißer einer Firma schweißt Maschinenteile zusammen. In anhaltendem Fachkräftemangel und schwächelnder Arbeitsproduktivität sieht die staatliche Förderbank KfW einem Bericht zufolge ernste Bedrohungen für den deutschen Wohlstand.(zu dpa KfW-Ökonomen: «Fundament für weiteres Wohlstandswachstum bröckelt») Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-Zentralbild/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Wirtschaftsstandort Deutschland: Ein Land kommt in die Jahre

Die Wirtschaft steckt in Stagnation fest, die Furcht vor der Deindustrialisierung geht um. Ist Deutschland also wieder der „kranke Mann Europas“? Jedenfalls ging es schon mal besser. Wir sehen uns einige Symptome an.

Hinter Verdi liegen harte Arbeitskämpfe, die sich für die Gewerkschaft durchaus gelohnt haben: Die Streikwelle hat Verdi den größten Zuwachs seit Gründung beschert.

Diese Entwicklung freut uns natürlich. Wir haben nicht nur so viele Eintritte wie noch nie, sondern auch netto eine positive Mitgliederentwicklung. Was uns aber nicht ruhen lässt; die Mitgliedergewinnung bleibt eine große Aufgabe für uns, auch weil es Veränderungen gibt.

Inwiefern?

Die Fluktuation nimmt zu. Die Menschen machen es zunehmend von ihrer aktuellen Situation abhängig, ob sie Gewerkschaftsmitglied sein wollen oder nicht. Sie treten wegen einer konkreten Betroffenheit am Arbeitsplatz ein, später aber auch wieder aus, sobald ihr Problem gelöst ist. Ähnlich ist es beim Arbeitgeberwechsel. Wir nennen diese Leute „Good Leavers“, sie verlassen uns ohne Groll. Denn viele entscheiden sich, bei der nächsten Gelegenheit auch wieder einzutreten. Dass die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft als Lebensentscheidung angesehen wird, nimmt aber ab. Und mit dieser Entwicklung müssen wir umgehen.

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Künstliche Intelligenz wird zu einem immer präsenteren Thema in der Arbeitswelt. Arbeitsminister Hubertus Heil rechnet damit, dass spätestens 2035 kein Arbeitsplatz mehr ohne auskommt. Sind die Dienstleistungsberufe besonders bedroht?

Von Bedrohung würde ich nicht sprechen. Aber gerade die Dienstleistungsberufe werden sich durch den Einsatz von KI stark verändern. Es werden auch Tätigkeiten wegfallen, keine Frage. Aber wir sind auch in einer Situation, in der es bereits Arbeitskräftemangel gibt. Deshalb glaube ich nicht, dass wir eine Situation wie in den 70ern oder 80ern erleben, wo Automatisierungsprozesse zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt haben. Aber wir stehen vor großen Veränderungen, die Regeln brauchen.

Was schwebt Ihnen da vor?

Wir brauchen eine bessere Mitbestimmung in den Betrieben. Derzeit gibt es für Betriebs- und Personalräte kein wirkliches Initiativrecht bei technischen Veränderungen, sie können immer nur reagieren. Außerdem muss klar sein, dass der Einsatz von KI in bestimmten Situationen ausgeschlossen wird. Etwa immer dann, wenn Menschen beurteilt werden, beispielsweise bei Bewerbungen. Und im Bereich der Kultur oder im Journalismus muss klar erkennbar sein, wenn eine Wertschöpfung nicht durch einen Menschen geschieht. Die EU hat ja ihren KI-Act auf den Weg gebracht. Was Mitbestimmung angeht, ist aber vor allem die nationale Gesetzgebung gefordert. Beim Einsatz von KI braucht es klare Rahmenbedingungen.

Wird denn der Einsatz von KI dazu führen, dass wir schlussendlich doch über eine Arbeitszeitverkürzung reden?

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Absolut. KI wird gerade in Dienstleistungsberufen zu einem erheblichen Produktivitätssprung führen. Natürlich stellt sich dann die Frage, wer sich diese Digitalisierungsdividende einsteckt. Und wir sind als Gewerkschaft der Meinung, dass sich das auch in zusätzlicher freier Zeit für die Beschäftigten niederschlagen sollte.

Ende der Woche hält Verdi nach vier Jahren wieder seinen Bundeskongress ab. Dabei wird es auch um Ihre Wiederwahl gehen. Müssen wir davor also noch mit größeren Aufrufen zum Arbeitskampf rechnen?

Das hängt immer von den Arbeitgebern ab. Wir werden unseren Arbeitskampf nicht einstellen, weil Bundeskongress ist. Schließlich haben wir derzeit eine große Tarifrunde im Handel. Die Arbeitgeber haben nur noch wenige Tage Zeit, um sie bis zum Bundeskongress zu beenden. Wenn nicht, wird der Arbeitskampf aber natürlich auch über den Kongress hinausgehen. Ich glaube, es gab noch nie einen Bundeskongress, bei dem nicht parallel auch irgendwo gestreikt wurde.

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