Das Ende der gefühlten Wahrheit
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“Ist das unser neuer Kanzler?” überschrieb die “Zeit” ein Porträt von Christian Drosten, Virologe der Berliner Charité. Er selbst sieht sich als Wissenschaftler durch und durch – und betont die Distanz zur Politik.
© Quelle: imago images/Metodi Popow
Hannover. Einer hatte zugehört. Und er hatte es verstanden. Als im Jahr 2005 in vielen Ländern erneut Vogelgrippeausbrüche gemeldet wurden, richtete UN-Generalsekretär Kofi Annan eine dramatische Warnung an die Welt. Eine weltweite Grippeepidemie, prophezeite er, könne “Millionen Menschen das Leben kosten”.
Ein einziger glücklicher Umstand verschaffte der Menschheit damals noch eine Gnadenfrist: Der Erreger, H5N1, übertrug sich nur von Tier zu Mensch, nicht von Mensch zu Mensch. Doch darauf würde sich die Menschheit nicht auf Dauer verlassen können, das war Annan klar. “Wenn die Übertragung von Mensch zu Mensch erst einmal stattgefunden hat, hätten wir nur einige Wochen, um die Ausbreitung zu stoppen, bevor sie außer Kontrolle geraten würde”, sagte Annan – und fügte noch hinzu: “Jeden Tag läuten die Alarmglocken lauter.”
Der Virologe warnte: Ein Drittel wird sich infizieren
Der UN-Generalsekretär war kein Prophet. Es brauchte aber auch keine übersinnlichen Gaben, um vorherzusagen, dass eines baldigen Tages eine gefährliche Seuche die Welt wieder heimsuchen würde. Man musste eigentlich nur den Virologen und Epidemiologen zuhören, die genau so etwas vorhersagten wie die jetzige Corona-Pandemie.
An Warnungen jedenfalls hat es nicht gefehlt. “Die Gefahr einer Pandemie ist real und das Risiko so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr”, sagte der Virologe Reinhard Kurth, damals Leiter des Robert-Koch-Instituts, im Jahr Jahr 2005. Selbst wenn das Virus nur mittelschwer ansteckend wäre, schätzte Kurth, würde sich ein Drittel der Bevölkerung infizieren.
Wie Deutschland für die Seuche probte
Es ist nicht so, dass zum Beispiel Deutschland all die Warnungen in den Wind geschlagen hätte. Es gab 2007 eine Übung, in der Bundes- und Landesbehörden eine Pandemie simulierten. Katastrophenpläne wurden entworfen, Krisenstäbe definiert, Papiere geschrieben, das durchaus. Es achtete dann zum Beispiel nur niemand darauf, dass im Ernstfall genügend Desinfektionsmittel, Mundschutze und Schutzkleidung verfügbar wären. Dinge, die man bei jedem Seuchenausbruch braucht, egal, ob es sich um Influenza-, Corona- oder noch ganz andere Viren handelt.
Nun gibt es gute Gründe, warum wir nicht bei jeder Warnung gleich in Hektik verfallen. Eine gesunde Skepsis gegenüber manchem entlegenen Alarmappell kann zum Beispiel ganz hilfreich sein, um nicht bei jeder Gelegenheit in Schockstarre zu verfallen.
Der Spott über die Bienlein-Typen mit Spitzbart
Die generelle Missachtung wissenschaftlicher Prognosen jedoch hatte oft einen anderen Grund: die Geringschätzung von Wissenschaft überhaupt. Wissenschaftler – sind das nicht diese Professor-Bienlein-Typen, diese spitzbärtigen Nickelbrillenträger, die viel von Büchern, aber wenig vom Leben verstehen?
So weit das gängige Klischee. Gerhard Schröder zum Beispiel entledigte sich zu Kanzlerzeiten der Reformideen eines politischen Gegners mit dem einfachen Hinweis, sie stammten von diesem “Professor aus Heidelberg”. Donald Trump wiederum setzte den Wissenschaftlern mit großem Erfolg seine “alternativen Wahrheiten” entgegen. Kein Wunder, dass auch die Hinweise auf Klimawandel und Erderwärmung lange Zeit nicht fruchteten.
In der Corona-Krise nun zeigt die Wissenschaft ihren wahren Wert. Täglich spricht zum Beispiel der Virologe Christian Drosten in Podcasts und von Podien zu uns – und bietet neben Erkenntnissen über das Wesen des Virus auch noch einen faszinierenden Einblick ins wissenschaftliche Denken.
Drosten stellt Hypothesen auf, benennt, was für und was gegen sie spricht, und hat keinerlei Mühe, sich am nächsten Tag zu korrigieren, wenn seine These widerlegt ist. Für einen Politiker ist das schwer denkbar – für ihn ist es ein Zeichen des Erkenntnisfortschritts. Und Drosten ist nicht der Einzige: Diese Krise ist auch die Hochzeit der Epidemiemodellierer, der Impfstoffforscher und der Intensivmediziner.
Das Diktat der Wissenschaft
Droht deshalb nun die Diktatur der Wissenschaft? Die Gefahr ist klein – schon deshalb, weil sich jemand wie Christian Drosten vermutlich eher entleiben würde, als sich in die Politik zu begeben. Die Rollenteilung aber funktioniert bislang gut: Die Wissenschaft, jedenfalls ihr seriöser Teil, stellt Fakten zur Verfügung, wagt Prognosen und benennt Unsicherheiten. Die Politik wiederum tut, was ihre Aufgabe ist: Sie trifft auf dieser Basis ihre Entscheidungen.
Wenn man nun eine Prognose wagen kann, dann diese: Es wird künftig deutlich schwerer werden, die Erkenntnisse der Wissenschaft zu übergehen – sei es beim Klimawandel, aber auch auf anderen Gebieten. Die Welt bekommt gerade zu spüren, was es bedeutet, diese Fakten zu ignorieren – und diese Erfahrung wird sich tief in die Erinnerung graben. Mit etwas Glück markiert diese Krise auch das Ende des postfaktischen Zeitalters – und sichert der Wissenschaft Gehör und Beachtung. Es wäre nicht das Schlechteste, was diese Krise am Ende hervorbringen könnte.