Das kann man glatt machen: Wieso Körperbehaarung noch immer ein Tabu ist
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Noch immer gelten Bein- und Achselhaare bei vielen Menschen als No-Go.
© Quelle: Sora Shimazaki/Pexels
Da ist zum Beispiel Jasmin Dölle: Sie ist 14 und im Ferienlager, als sie erfährt, dass die Jungen sie heimlich Affe nennen. Der Grund: Sie entfernt ihre Achselhaare nicht. Etwas später beginnt sie mit dem Rasieren, Epilieren, Waxen. Es sei fast eine Obsession gewesen, sagt Dölle. Irgendwann findet sie, dass sie ihren Körper nicht mehr für andere verändern müsse, und lässt es sprießen.
Da ist Christine Zureich, die den Lockdown als „Verwilderungsexperiment“ nutzt: „Ich beobachte das Wuchern auf meinem Kopf mit wachsender Irritation, die Beinbehaarung dagegen vollkommen fasziniert … Seit meinem zwölften Lebensjahr habe ich rasiert. Wie lange halte ich ohne aus?“
Und Max Braun wünscht sich, dass seine jetzt fünfjährige Tochter, deren Augenbrauen zusammengewachsen sind, später zu dieser „Monobraue“ steht: Ihn erinnere die Braue an die mexikanische Malerin Frida Kahlo.
Für die Aktion „Haarige Geschichten“ der Kunsthalle Bremen haben die drei ihre Erfahrungen aufgeschrieben und mit Fotos dokumentiert. Zu der Ausstellung „Die Picasso-Connection“, die coronabedingt verschoben ist, hatte die Kunsthalle einen internationalen Aufruf gestartet: Menschen sollten ihre persönlichen Haargeschichten schildern.
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Atavistisches Überbleibsel oder Zeichen von Männlichkeit? Andreas Weimann zeigt seine beeindruckende Brustbehaarung.
© Quelle: Andreas Weimann
Was hat es mit der Aktion „Haarige Geschichten“ auf sich?
Mehr als 700 Fotos sind in Bremen eingetroffen. In der Ausstellung geht es zwar nicht explizit um Haare, doch laut Kunsthallen-Sprecherin Jasmin Mickein fänden sich in den Werken Picassos oft Darstellungen von Achsel-, Brust- und Intimhaaren sowie von lichtem Kopf- oder Barthaar. Die Arbeiten spiegelten, was in der Zeit ihrer Entstehung als selbstverständlich galt: Menschen haben Haare am Körper – und zeigen diese auch.
Das ist heute, 60, 70 Jahre später, nicht mehr üblich. Ein Großteil der Frauen und zunehmend auch mehr Männer investieren viel Zeit und Geld, um Achseln, Beine und Intimregion haarfrei zu bekommen. Da wird rasiert, epiliert und gezupft. Seit ein paar Jahren stehen Brazilian Waxing, das den Intimbereich besonders glatt machen soll, und Sugaring, das Haarentfernen mit Zuckerpaste, hoch im Kurs. Vor ein paar Jahrzehnten war Natürlichkeit angesagt, und die Deutschen ließen es – im Unterschied zu US-Amerikanern etwa – meist wachsen.
Mehr als die Hälfte der deutschen Frauen kämpft gegen Körperbehaarung an
Die Zahl der „Haarfreunde“ sinkt kontinuierlich. Laut einer Studie der Universität Leipzig von 2017 entfernen 60 Prozent der deutschen Frauen die Achsel-, 53 Prozent die Beinbehaarung und 43 Prozent die Haare im Intimbereich. Je jünger die Teilnehmerinnen, desto üblicher ist das. Eine Befragung im Auftrag des Elektrogeräteherstellers Philips kam im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass neun von zehn Frauen Achseln und Beine rasieren und 77 Prozent den Intimbereich. Für die meisten aus der Väter- oder Großvätergeneration wäre wohl undenkbar gewesen, was laut Studie jeder dritte bis vierte Mann macht: sich die Achsel- und Intimhaare zu entfernen. Heute schockt ein glatt rasierter Körper zum Hipsterbart kaum noch.
Wieso das Enthaaren für Frauen eine größere Rolle spielt als für Männer
Irritierender ist hingegen, wie umfassend sich die Vorstellung, dass ein haarloser Frauenkörper ein schöner Körper sei, durchgesetzt hat. Welche Kräfte bewirken, dass so viele Frauen freiwillig zum Rasierer oder zur Enthaarungscreme greifen? „Das Enthaaren des Körpers hat ein ganz wesentliches Attraktivitätsmerkmal zum Ziel: die Jugendlichkeit. Denn der haarlose Körper wird gleichzeitig mit dem jungen Körper assoziiert“, sagt Johannes Krause, Soziologe an der Universität Düsseldorf und Autor des Buches „Schönheitshandeln: Der Einfluss des Habitus auf die Bearbeitung des Körpers“ (Verlag Springer VS). „Da Jugendlichkeit insbesondere für die Attraktivitätsbewertung von Frauen wichtig ist, spielt die Enthaarungsnorm für Frauen eine größere Rolle als für Männer.“
„Männer sehen rasierte Männerkörper in Film, Werbung und sozialen Medien“
Im 18. und frühen 19. Jahrhundert verbreiteten Männer mit glatt rasierten Körpern eher Schrecken. In ihrem Buch „Plucked: A History of Hair Removal“ beschreibt die US-Historikerin Rebecca M. Herzig, wie sehr die glatten Körper der nordamerikanischen Ureinwohner die ersten weißen Siedler und Soldaten mit ihren wilden Bärten und Brusthaaren in Erstaunen versetzten. Mancher mag noch heute einen stark behaarten Männerkörper als besonders maskulin empfinden.
Doch den meisten gilt ein Männerkörper, an dem der Haarwuchs gezähmt ist, als gepflegt. Als Zeichen einer neuer Androgynität bewertet Krause die Entwicklung zum enthaarten Männerkörper nicht: „Ich würde das als Ergebnis der zunehmenden Sichtbarkeit interpretieren. Auch Männer sehen rasierte Männerkörper in Film, Werbung und den sozialen Medien. Das lässt niemanden kalt und übt einen gewissen Druck aus, diesem Bild zu folgen.“
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Unweiblich und eklig? Jasmin Dölle und ihre Achselbehaarung.
© Quelle: Bernd Schneider
Haare am Körper gelten als eklig, unweiblich und unhygienisch
Für Frauen, prominente zumal, ist der Anpassungsdruck ungleich größer. Immer wieder sorgen Bilder von behaarten Frauenbeinen in sozialen Medien für einen Shitstorm. Das schwedische Model Arvida Byström, das vor ein paar Jahren für eine Adidas-Kampagne mit unrasierten Beinen fotografiert wurde, erntete laut eigener Auskunft nicht nur Hasskommentare, sondern sogar Vergewaltigungsdrohungen.
Die Frage, ob Frauen alle sichtbaren Haare rasieren, ist ideologisch aufgeheizt. Körperhaare seien eklig, unweiblich und unhygienisch, meint die Haarentfernerfraktion. Wer seine Haare nicht rasiere, befreie sich von gängigen Rollenklischees und signalisiere Selbstbewusstsein, argumentieren jene, die fürs Wachsenlassen sind.
Achselhaare wachsen lassen, um ein Zeichen zu setzen: Funktioniert das?
Krause findet es grundsätzlich wünschenswert, wenn sich Personen reflektiert mit ihrem Schönheitshandeln – also der Art und Weise, wie sie ihren Körper bearbeiten – auseinandersetzen. „In meinen Augen ist nichts schlimmer als das unhinterfragte Befolgen von normativen Ansprüchen. Man sollte sich gewahr sein, wieso die Gesellschaft etwas von einem verlangt und in welchen Fällen man diesem Anspruch nachkommen will und in welchen nicht“, sagt der Soziologe.
Die Breitenwirkung von Aktionen, bei denen vor allem junge Frauen ihre Achselhaare sichtbar wachsen lassen, schätzt er jedoch als eher gering ein: „Es hat in der Vergangenheit immer wieder Frauen gegeben, die sich demonstrativ vom gängigen Ideal abgewandt haben und damit ein Vorbild geschaffen haben. Allerdings ist der Konformitätsdruck, insbesondere für junge Frauen, so hoch, dass es (noch) zu keiner Breitenwirkung oder einer nachhaltigen Veränderung des sozialen Schönheitsideals gekommen ist.“
So wird wohl erst mal weiterhin gezupft, rasiert, epiliert und gewaxt.