Eine Internetschule für besondere Kinder – auch die Kaulitz-Brüder waren dort
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Viele Schüler, die nicht in dieses System passten, machen ihren Abschluss an der internetbasierten web-individualschule mit Sitz in Bochum.
© Quelle: Stefan Schejok
Bochum. Als Mitschüler Tom in der Grundschule an einem Laternenpfahl fesselten, war klar, dass er hier wegmusste. Er war anders als die anderen Kinder. Nicht nur war er bereits mit fünf Jahren eingeschult worden – er hatte auch noch eine Klasse übersprungen.
Schon als Sechsjähriger las er die “Welt am Sonntag”. Nicht, weil er sich für Zeitungen interessierte, wie er sagt, sondern für Informationen. Anders als andere Menschen mit Asperger-Syndrom hat er nicht die eine große Leidenschaft. Er will mit seinem Wissen breit aufgestellt sein. “Es ist nicht einfach, wenn man anders ist”, sagt der 14-Jährige im Rückblick.
Web-Schule: Auch Bill und Tom Kaulitz von Tokio Hotel waren dort
Sechs-, vielleicht siebenmal wechselte er die Schule, “noch öfter die Schulbegleiter”, erinnert er sich. Ein Spießrutenlauf. Seit zwei Jahren nun kann er sich ganz auf seinen Unterrichtsstoff konzentrieren. Tom “besucht” seither Deutschlands einzige Fern-Lern-Einrichtung, die web-individualschule mit Sitz in Bochum.
Zu den Schülern zählen Schauspiel-Kinder, die während der Dreharbeiten nicht zur Regelschule können, chronisch Kranke, Jugendliche mit Glasknochen, Depressionen, Sozialphobie, Krebs. Autisten, Leistungssportler oder Kinder von Weltreisenden, die sich aus dem Ausland dem Skype-Unterricht zuschalten können. Auch Bill und Tom Kaulitz machten hier 2008 ihren Realschulabschluss, als sie durch den Erfolg ihrer Band Tokio Hotel nicht mehr regelmäßig zum Unterricht konnten.
Eine Chance auf einen Schulabschluss – trotz Krankheit
Eine Schule, für die man zum Lernen einfach im Bett bleiben kann. Unterricht aus dem Homeoffice oder Tourbus. Wer hat nicht als Jugendlicher schon einmal davon geträumt? Für Tom, der durch seinen Autismus und durch das Mobbing seiner Mitschüler von der Schulpflicht befreit wurde, ist es die Chance auf einen Schulabschluss.
Jeden Morgen von 9.30 Uhr bis 9.50 Uhr skyped er mit seinem Lehrer, Herrn Wiensgol. Es ist eine Eins-zu-Eins-Beschulung, ein Lehrer für alle Fächer, eine Bezugsperson. “Unser Verhältnis ist partnerschaftlich”, erzählt Tom. 20 Minuten pro Tag – das klingt erstmal wenig. Aber Tom erklärt: “Du kannst dich da nicht in der letzten Reihe verstecken. Er merkt sofort, wenn ich etwas nicht verstehe.” In ihrer Live-Unterrichtseinheit besprechen sie alte und neue Aufgaben. “Danach sitze ich täglich zwischen 15 Minuten und vier Stunden daran.”
Individualisierter Unterricht für Online-Schüler
Das Lernen ist sehr effektiv, der Unterrichtsstoff wird auf jeden Schüler individuell abgestimmt.
Sarah Lichtenberger, Leiterin der Schule
“Das Lernen ist sehr effektiv, der Unterrichtsstoff wird auf jeden Schüler individuell abgestimmt”, erklärt die Leiterin der Schule, Sarah Lichtenberger. Liebt jemand Bushido, lernt er in Mathe, wie viele Konzerttickets er verkaufen muss, um auf sein Monatsgehalt zu kommen. In Physik wird die Pyrotechnik seiner Auftritte beleuchtet und in Deutsch stehen die Songtexte zur Debatte.
20 Lehrer sitzen in Bochum im 2018 neu entstandenen Schulgebäude auf zwei Fluren verteilt, darunter Pädagogen, Psychologen, Sozialarbeiter. “Ihre Arbeit verlangt viel Fingerspitzengefühl”, sagt Sarah Lichtenberger. Es ist eine Schule ohne Schiefertafel und Kreide, dafür mit Kletterwand, Playstation und Kicker für Schüler, die einfach mal zu Besuch kommen, für Kennenlerngespräche, für Prüfungsphasen. Insgesamt werden von hier aus derzeit 150 Schüler zwischen zehn und 20 Jahren unterrichtet.
Schüler müssen nur für die Abschlussprüfung anreisen
Ein- bis zweimal im Jahr haben sie Gelegenheit, ihre Abschlussprüfung abzulegen – mit einer externen Prüfungskommission der Bezirksregierung, die ein staatlich anerkanntes Zeugnis ausstellen kann. Dafür müssen die Schüler dann ausnahmsweise anreisen.
Seit der Gründung 2002 haben über 420 Kinder und Jugendliche ihren Abschluss gemacht. Die Kosten trägt zum Teil das Jugendamt, zum Teil das Sozialamt. Es gibt aber auch einen Förderverein, der mit Geldern von Stiftungen Schülern den Abschluss finanziert, die sonst keinen machen könnten. “Wir haben zum Beispiel einen Schüler, der nicht spricht”, erzählt Lichtenberger. Das Amt wollte für ihn nur den Hauptschulabschluss bezahlen, er hat mit 17 aber schon drei Bücher geschrieben. “Mit einem Stipendium konnte er dann doch noch seinen Realschulabschluss machen.”
Rahmenbedingungen für beeinträchtigte Schüler fehlen
Sarah Lichtenberger war gerade 25 Jahre alt und studierte Pädagogik, Kriminologie und Sozialpsychologie, als sie die Schule mit damals acht Schülern von ihrem Vater übernahm und sukzessive aufbaute. Sie sagt, ihre Arbeit habe heute vor allem einen großen inklusiven Charakter.
“Vielerorts fehlen die notwendigen Rahmenbedingungen, um auf die individuellen Bedürfnisse gehandicapter Jungen und Mädchen einzugehen“, sagt sie. “Inklusion lässt sich nicht aus dem Stegreif umsetzen.” Lehrkräfte müssten besser aus- und weitergebildet werden. Viele Schüler, die nicht in dieses System passten, landeten bei ihr in der “web-individualschule”. So wie Tom.
Tokio Hotel: Karrieresprung und Schulabschluss
Die Webschule hat uns geholfen, unseren Traum von einer Musikkarriere zu verwirklichen.
Bill und Tom Kaulitz von der Band Tokio Hotel
Natürlich fühlt er sich ohne Mitschüler auch mal einsam, vermisst den Schulalltag. “Ja, sogar das Langweilen im Unterricht”, grinst er. Trotzdem genießt er sein Leben ohne Mobbing und stressige, laute Situationen. Er singt im Chor, im Sommer möchte er seinen Segelschein machen, in zwei Jahren seinen Realschulabschluss. Ob er dann wie so viele anderen Schüler den Kontakt zur Schule hält wie etwa die Tokio-Hotel-Brüder?
Für ein Zitat von ihnen braucht es nur eine schnelle Whatsapp von Schulleiterin Lichtenberger, schon bekommt sie eine Antwort: “Die Webschule hat uns geholfen, unseren Traum von einer Musikkarriere zu verwirklichen. Wir sind froh, dass es in Deutschland eine so gute Alternative zur regulären Schullaufbahn gibt, denn in diese passten wir einfach nie rein.”
Ob Tom stolz ist, dass die berühmten Brüder auf seiner Schule waren? “Ach”, meint er, “die beiden hätte doch jede Schule genommen. Viel spektakulärer finde ich es, auf einer Schule zu sein, die auch die Schwachen integriert.” Als Chance für all jene Schüler, die eben nicht ins Regelschulsystem passen.