Es geht auch ohne Plastik
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© Quelle: istock
Berlin. Es hat nicht sonderlich gut funktioniert, das gibt Mette-Marit zu. Die norwegische Kronprinzessin hat gemeinsam mit ihrem Mann, Kronprinz Haakon, eine Weile probiert, zu Hause keinen Plastikmüll zu produzieren. „Das war sehr kompliziert. Es ist unglaublich schwer, als Verbraucher heutzutage kein Plastik zu nutzen“, berichtete die 44-Jährige kürzlich.
Wenn es schon im Palast nicht funktioniert, wie sieht es dann erst im Normalhaushalt aus?
In Europa fallen jährlich rund 26 Millionen Tonnen Plastikmüll an. Nur 30 Prozent werden wiederverwertet, der Rest wird verbrannt oder landet bestenfalls auf Deponien – und riesige Mengen enden in Meeren oder Böden.
Als der Schwede Ruben Rausing 1951 die erste Milch im kunststoffbeschichteten Papierbehälter, dem Tetra Pak, auf den Markt brachte, war das der Startschuss für eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Lebensmittel wurden in Plastik verpackt, hielten sich länger frisch, konnten unkomplizierter und in größeren Mengen transportiert werden. Die Rausings wurden Milliardäre, Tetra Pak stieg zum Weltkonzern auf, der rund um den Globus Filialen hat.
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Die Einwegsschwemme: In europäischen Flüssen und Kanälen dümpelt tonnenweise Plastikmüll.
© Quelle: iStock
Doch der Segen wurde zum Fluch. Wissenschaftler der University of California haben errechnet, dass seit dem ersten Tetra Pak weltweit rund 8,3 Milliarden Tonnen Kunststoffe produziert worden sind – natürlich nicht ausschließlich für Verpackungen, Einwegflaschen oder -geschirr. Bis 2015 fielen knapp 6,3 Milliarden Tonnen Plastikmüll an. Nur 9 Prozent wurden wiederverwertet, 12 Prozent wurden verbrannt. Der Rest, 79 Prozent, landete auf Deponien oder in der Umwelt. Eine niederschmetternde Bilanz, die jeder auch im eigenen Haushalt ziehen kann. Im Durchschnitt produziert jeder Deutsche 37 Kilogramm Plastikmüll im Jahr.
Muss das sein? Die Verbraucher wissen es längst besser. Sie haben von den Müllstrudeln in den Ozeanen gehört. Sie haben die Bilder der verendeten Meerestiere gesehen, die Plastikmüll verschluckt oder sich darin verfangen haben. Sie ärgern sich über die Berge von Einwegmüll in den Parks (die natürlich andere hinterlassen). Auf der anderen Seite stehen Bequemlichkeit und allzu oft der Mangel an bezahlbaren Alternativen.
Plastik, das der Verbraucher in Kauf nimmt
„Verpackung ist eigentlich nichts Schlechtes, aber sie verführt“, sagt der Soziologe Thomas Decker von der Technischen Universität München. Der Bayer untersucht in der niederbayerischen Stadt Straubing, wie sich Plastik auf die Entscheidungen von Verbrauchern auswirkt und wie man diese im Umweltsinne beeinflussen kann. Bislang wird in dem Projekt, das vom Bundeswissenschaftsministerium gefördert wird, beobachtet: „Obwohl das gleiche Produkt in einer umweltgerechteren Verpackung an der Frischetheke verfügbar ist, greifen Kunden direkt daneben an den Selbstbedienungstheken zum mehrfach in Folie eingewickelten Käse und zur eingeschweißten Salami“, sagt Verhaltensforscher Decker. „Das ist Plastik, das der Verbraucher im wahrsten Sinne des Wortes in Kauf nimmt.“
Wer halbwegs bewusst Lebensmittel einkauft, kann dabei jede Menge Plastikmüll vermeiden – und hat die Alternativen direkt vor Augen. Bei anderen Einkäufen wird’s schon komplizierter. Als Beispiel nennt Decker Textilien. „Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie viel Müll bei Textilien anfällt. Jede Hose, jedes Hemd, meistens in Südostasien gefertigt, wird für den Transport mit einer Plastikhülle umwickelt. Viele Kleiderbügel hängen niemals im Laden, sie landen direkt auf dem Müll. Es ist Plastik, das niemand sieht. Es ist für den Einzelnen unvermeidbar, egal, wie er oder sie sich kleidet.“
In Großbritannien soll vom kommenden Jahr an vieles verboten sein: Plastiktrinkhalme etwa, Wattestäbchen, Einwegbesteck. Premierministerin Theresa May warb jüngst vor den Regierungschefs der Commonwealth-Staaten wie Indien, Kanada oder Australien dafür, dem Beispiel Londons zu folgen. Selbst China wächst das Problem Müll über den Kopf. Dabei war es jahrelang ein Geschäftsmodell der Volksrepublik, Müll aus anderen Ländern zu kaufen, um daraus Rohstoffe zu gewinnen. Die Hälfte des globalen Mülls landete in China. Allein Deutschland verschiffte 2016 rund 560 000 Tonnen Altplastik dorthin. Dann jedoch verhängten die Chinesen einen Importstopp.
Und Europa steht vor einem großen Problem: Wohin mit dem Müll?
Die EU-Kommission wird noch im Mai eine Richtlinie veröffentlichen, die das Verbot von Einweggeschirr, Trinkhalmen und Essstäbchen vorsieht. Außerdem wird in Brüssel über eine Plastikmüllsteuer nachgedacht: Jeder Mitgliedstaat soll pro Kilo Verpackungsabfall, der nicht wiederverwertbar ist, 80 Cent nach Brüssel abführen. Dieser Steuer müssten allerdings die Mitgliedsstaaten und das europäische Parlament zustimmen. Bis dahin muss wohl noch eine Menge Überzeugungsarbeit geleistet werden.
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„An der Bar zahlst du 15 Euro für einen Gin Tonic, und dann steckt man dir ein Stück Erdöl rein“: Der Berliner Sebastian Müller hat ein Start-up gegründet, das Plastikstrohhalme durch Trinkhalme aus Glas ersetzen will..
© Quelle: Paula Faraco
Andere sind da schon weiter. Sebastian Müller zum Beispiel.
Der Berliner Jungunternehmer sitzt auf seiner Couch in einem noch ziemlich kargen Erdgeschossbüro in Friedrichshain. Auf einer Tafel hinter dem jungen Mann stehen noch die Getränkepreise der Vormieter: Latte Macchiato für 2,80 Euro, Café Crema für 2,40 Euro.
Müller – T-Shirt, Hornbrille – ist hier gerade mit seinem Start-up „Halm“ eingezogen. „Halm“ verkauft Trinkhalme aus Glas. Die gab es schon in den Siebzigerjahren, bis sie von billigen Plastikhalmen verdrängt wurden. Ein Urlaub auf der thailändischen Insel Ko Phayam brachte ihn und seine Frau, eine Australierin, vor zwei Jahren auf die Idee. „Nach den Strandpartys stapelten sich in kürzester Zeit vollgestopfte 150-Liter-Müllsäcke. Jedes zweite Teil darin war ein Trinkhalm“, erzählt Müller. Im Juni 2017 gründeten sie ihr Start-up. Vier wiederverwendbare, gläserne Halme, auswaschbar, 20 Euro. „Nach hundert Mal Trinken haben sie sich amortisiert.“
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„Nach hundert Mal Trinken haben sie sich amortisiert“: Glasröhrchen von „Halm“.
© Quelle: Nicky Walsh
Allein in Deutschland sollen jedes Jahr 40 Milliarden Plastikhalme in den Müll wandern. Müller findet das abartig: „In einem Lokal würdest du ein Steak auch nicht mit einer Plastikgabel essen. Aber an der Bar zahlst du 15 Euro für einen Gin Tonic, und dann steckt man dir ein Stück Erdöl rein.“ In 90 Prozent aller chemisch hergestellten Produkte steckt tatsächlich Erdöl als Grundstoff – eben auch in Plastikstrohhalmen. Offenbar ist das inzwischen nicht nur dem Jungunternehmer zuwider. Zu seinen Kunden zählen bereits 160 Gastronomiebetriebe, darunter solch renommierte Adressen wie das Berliner Hotel Adlon oder das Ritz in Paris.
Müller hofft nun auf weiteren Auftrieb seines Geschäfts durch ein EU-Verbot für Einweggeschirr. „Wir können uns bei den Chinesen bedanken“, sagt er und spielt damit auf deren Mülleinfuhrverbot an. „Schon morgen können wir 500 000 umweltfreundliche Halme liefern.“
Neue Stoffe, neue Wege
Umweltbewusstsein und Geldverdienen – auf diesem Kurs fahren inzwischen viele Gründer. Ein Augsburger Designer etwa produziert im 3-D-Drucker individuelle Waschbecken aus Plastikmüll, der aus dem Meer gefischt wurde. Es gibt Yogamatten oder Designerklamotten aus Müll, Geschirr und Besteck aus Blättern, Weizenkleie, Holz oder Bambus. Kleine Supermärkte bieten lose Waren ohne Einwegverpackung an. Lösen Holz und Bambus und die daraus entwickelten Biokunststoffe das Problem?
Nicht notwendigerweise, meint Sven Sängerlaub vom Fraunhofer Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung in Freising. Der Begriff Biokunststoff ist nicht einmal in seiner Definition ganz klar. Es gibt zwei verschiedene Arten:
Da sind zum einen Kunststoffe wie Polypropylen, die mit nachwachsenden Rohstoffen, unter anderem Hanf und Flachsfasern, gemischt werden. Sie sind zwar unabhängig von begrenzten Ressourcen wie Erdöl. „Aber Plastik bleibt Plastik. Auch wenn es Bio-Plastik heißt“, hält der Forscher fest.
Die zweite mögliche Gruppe sind biologisch abbaubare Kunststoffe. Sie stellen das bei Weitem größte Marktsegment der Biokunststoffe und haben den größten wirtschaftlichen Stellenwert. Sie lassen sich aus einer Vielzahl pflanzlicher Rohstoffe herstellen: Zellulose, Zucker, aber vor allem Stärke. Letztere wird dabei aus Weizen, Mais und Kartoffeln gewonnen. Biologisch abbaubare Stoffe scheinen für vieles geeigneter. Sie hinterlassen kaum Spuren in der Umwelt, man muss sie nicht notwendigerweise einsammeln und sie lösen sich auf, bevor sie zum Problem für die Ozeane werden.
Aber: Sie können nicht immer die hohen Hygienestandards beispielsweise beim Transport und Frischhalten von Lebensmitteln erfüllen.
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© Quelle: RND
Sängerlaub will die Biokunststoffe nicht schlechtreden, aber nur als Teil der Gesamtlösung begreifen. Effektiver wären gute Sammel- und Recyclingsysteme, meint er, denn es gebe noch genügend Potenziale zur Plastikeinsparung. Als Beispiel nennt der Experte ausgerechnet Lebensmittelverpackungen. „Manche Folien sind heute schon dünner als ein durchschnittliches menschliches Haar, das etwa 80 Mikrometer misst. Und wir sind da noch nicht am Ende.“
Auch beim Recycling seien die Entwicklungen erfreulich. Flaschen aus Polyethylenterephthalat (besser bekannt als PET) können heute zu fast 100 Prozent recycelt werden und gelbe Säcke, in denen verschiedene Kunststoffarten vermischt sind, in Teilen wiederverwendet werden – etwa für Blumentöpfe, Spritzgussteile oder Gartenzäune. Schlecht recycelbare Kunststoffe würden zwar weiterhin verbrannt, aber ihr Anteil werde konsequent abnehmen, prognostiziert Sängerlaub.
Ein Enzym, das Plastikflaschen frisst
Jüngste Erkenntnisse geben ihm recht. Eine internationale Forschergruppe fand zum Beispiel ein Enzym, das PET, den meistbenutzten Kunststoff bei der Herstellung von Plastikflaschen, innerhalb von Tagen verdauen kann. Und junge Erfinder aus London entwickelten eine rissfeste, flexible Membran aus Pflanzen und Meeresalgen, die in Kugelform Flüssigkeiten einschließen kann, der Umweltbilanz zufolge billiger als Plastik ist und sich wie Obst innerhalb von vier bis sechs Wochen biologisch abbaut.
Im Mikrokosmos Straubing machen solche Nachrichten den Soziologen Decker froh. Für sein Forschungsprojekt hat er Partner aus dem Einzelhandel gewonnen. „Wir werden es niemals schaffen, Plastik von heute auf morgen komplett aus den Regalen zu verbannen“, sagt er. „Aber wo es möglich und sinnvoll ist, wollen wir es vermeiden.“
Decker wäre froh, „ein Mosaiksteinchen“ dazu beizutragen, dass Menschen bewusster mit Ressourcen umgehen. Statt zum Beispiel einer Youtube-Influencerin nachzueifern, die jede Woche dreimal mit vollen Einkaufstüten aus einem Modeladen kommt, sollten wir uns ein bisschen zurücknehmen: „Je häufiger Sie ein Kleiderstück benutzen, desto besser.“
Sogar mit Tetra Paks geht es zur Neige
Auch das Prinzenpaar aus Norwegen lässt sich nicht von seinen schlechten Erfahrungen entmutigen. Es ging vergangene Woche unter die Müllsammler an heimatlichen Stränden und in Wäldern. Mette-Marit sagt, sie habe schon als Kind verstanden, dass Plastik nicht in die Natur gehöre.
Und Tetra Pak? Der Konzern arbeitet fieberhaft daran, den Plastiktrinkhalm, der Bestandteil jeder Portionspackung ist, bis Ende des Jahres durch einen Papierhalm zu ersetzen. „Es klingt alles ganz einfach, aber es gibt tatsächlich eine Reihe von größeren Herausforderungen, einen Papierhalm mit den erforderlichen Eigenschaften zu produzieren“, sagt Produktmanager Charles Brand.
Inzwischen, so Brand, bestünden die Packungen bereits durchschnittlich zu 75 Prozent aus Pappe. Ausgerechnet der Produzent, der der Welt den größten Plastikschub verpasst hat, steuert um: Langfristig soll das Portfolio von Tetra Pak nur noch aus Produkten bestehen, die komplett aus erneuerbaren Rohstoffen gemacht sind.
Von Thoralf Cleven und Jean-Marie Magro