Expertin zu Lernschwächen: „Legasthenie und Dyskalkulie sind neurobiologische Störungen“
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Wenn bei Ihrem Kind Buchstabenkombinationen willkürlich scheinen und deren Reihung keinen Sinn ergibt, kann es sein, dass ein Fall von Legasthenie vorliegt.
© Quelle: picture alliance / imageBROKER
Annette Höinghaus ist seit 1999 Mitglied im BVL und ist verantwortlich für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Verband. Sie ist selbst Mutter von zwei erwachsenen Kindern mit einer Legasthenie und kennt damit auch persönlich die schulischen Herausforderungen. Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) beantwortet sie Fragen zum Schulstart.
Wie äußerst sich eine Legasthenie bei Grundschulkindern?
Annette Höinghaus: Die Kinder tun sich sehr schwer beim Schriftspracherwerb. Es gelingt ihnen oft nicht, Buchstaben zu Silben und Silben zu Wörtern zusammenfügen. Sie können einfach keine Wortbilder abspeichern, sondern müssen jedes Wort neu erarbeiten. So entsteht auch nur schwerlich ein Lesefluss, auch die Inhalte werden schlechter aufgenommen. Ähnlich ist es beim Schreiben. Die Kinder können beim Schreiben nach Gehör auch lautgetreue Wörter selten richtig auf Papier bringen und schreiben gleiche Worte oft immer wieder anders falsch.
Und wie Dyskalkulie?
Bei der Dyskalkulie fehlt den Kindern ein Gefühl für Mengen und Zahlen. Zahlen wirken auf sie wie chinesische Schriftzeichen. Sie können sich nicht vorstellen, welche Zahl größer ist und welche kleiner. Schon mit dem zählenden Rechnen haben sie oft große Probleme, vor allem wenn der Zehnerzahlenraum verlassen wird. Übrigens fällt die Dyskalkulie oft schon im Kindergarten auf, wenn es darum geht abzuzählen oder spielerisch mit Mengen umzugehen. Legasthenie wird dagegen eher im Laufe der Grundschule diagnostiziert.
Wo liegt die Abgrenzung zu „normalen“ Lernschwächen?
Legasthenie und Dyskalkulie sind neurobiologische Störungen. Die Synapsen im Gehirn spielen hier nicht richtig zusammen – bei der Legasthenie vor allem im Sprachzentrum. Bei der Dyskalkulie sind noch mehr Hirnareale betroffen. Ein weiterer Unterschied ist die Verbesserung im Lesen/Schreiben oder im Rechnen. Die stellt sich bei der Legasthenie und Dyskalkulie deutlich langsamer ein als bei „normalen“ Schwierigkeiten in Deutsch oder Mathe.
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Annette Höinghaus ist selbst Mutter von zwei erwachsenen Kindern mit einer Legasthenie.
© Quelle: PR: Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie
Wie werden Legasthenie und Dyskalkulie bei Kindern diagnostiziert?
Auffällig werden die Kinder in der Schule oder dem Kindergarten. Die Lehrkräfte oder die Eltern äußern hier einen ersten Verdacht. Diagnostiziert werden können sowohl Legasthenie als auch Dyskalkulie aber nur von ausgebildeten Kinder- und Jugendpsychiatern oder Psychologischen Psychotherapeuten. Dabei werden im ersten Schritt erstmal andere Gründe für die Lernschwierigkeiten ausgeschlossen – zum Beispiel eine umfassendere Lernbehinderung oder fehlende Sprachkenntnisse. Im zweiten Schritt gibt es dann standardisierte Lese-und-Schreib– oder Rechentests zur Abklärung der Diagnose.
Manche Eltern scheuen eine Diagnose für ihr Kind, auch aus Angst vor Stigmatisierung. Welche „Vorteile“ kann eine bestätigte Legasthenie oder Dyskalkulie haben?
Tatsächlich kostet es Eltern viel Überwindung, mit ihrem Nachwuchs zu einem Kinder– und Jugendpsychiater zu gehen. Einerseits geben viele Mütter und Väter sich selbst eine „Teilschuld“ und anderseits wollen sie ihr Kind vor einem Gefühl der „Minderbegabung“ bewahren. Aber die Erfahrung zeigt, dass die Diagnose am Ende eine große Entlastung bedeuten kann. Plötzlich kennt man die Gründe für die schulischen Probleme und die sind eben neurobiologisch bedingt und entstehen nicht aus der eigenen Familie heraus. Anders ist es in der Schule. Hier gibt es immer noch Vorbehalte seitens der Lehrkräfte gegenüber einer medizinischen Diagnose. Deshalb geht der häufigste Impuls zur Abklärung von den Eltern aus und nicht von den Pädagoginnen in der Schule. Das liegt vermutlich auch daran, dass Lernstörungen und deren Förderung in der Lehramtsausbildung kaum thematisiert werden.
Gibt es schulische „Sonderrechte“ für Kinder mit Legasthenie oder Dyskalkulie?
In den schulrechtlichen Regelungen werden viele Lernstörungen in einen Topf geworfen und von Kindern mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche bzw. Rechenschwäche gesprochen. Dabei brauchen die Kinder oft ganz andere Maßnahmen. Zum Beispiel könnte die Lernstörung auch durch eine Aufmerksamkeitsstörung wie ADHS entstehen und dann braucht das Kind eine ganz andere Förderung als bei einer Legasthenie. Deshalb legen wir als Verband großen Wert auf eine fundierte, medizinische Diagnostik als Grundlage für eine gezielte Einzelförderung und einen passenden Nachteilsausgleich.
Leider fehlt auch hier der individuelle Blick auf die Bedürfnisse. Häufig bekommen die Kinder einfach ein bisschen mehr Zeit für die Klassenarbeiten, genau das hilft aber längst nicht allen. Manchmal braucht es größere Schriftgrößen oder Zeilenabstände bei Arbeitsblättern, Druckschrift statt Schreibschrift oder eine Lehrkraft, die die Aufgabe vorliest. Doch um die passenden Möglichkeiten zu finden, müssen die Pädagogen das Kind und seine Stärken und Schwächen genau in den Blick nehmen. Dafür fehlen leider oft das Wissen und die Zeit.
Mit welchen Folgen?
Mit schweren Folgen, die oftmals psychosomatische Erkrankungen nach sich ziehen! Mit gezielter und kontinuierlicher Förderung ist es möglich, Kinder mit einer Dyskalkulie oder Legasthenie auf Klassenniveau zu bringen und die Auswirkungen auf ein „unauffälliges“ Minimum zu reduzieren. Das ist wiederum eine gute Grundlage für eine Schullaufbahn, die dem Potential der Kinder entspricht und nicht nur darauf aufgelegt ist, einfach nur durchzukommen.
Eine andere Möglichkeit ist der Notenschutz.
Genau. Wir würden das auch zum Nachteilsausgleich zählen, in den schulrechtlichen Regelungen wird das aber unterschieden. Im Prinzip bedeutet Notenschutz, dass bestimmte Teile der Klassenarbeit nicht bewertet werden – zum Beispiel die Rechtschreibung in einem Aufsatz, dafür aber den Inhalt. Bei der Dyskalkulie ist das schon etwas komplizierter. Wenn ein Kind keine Rechenoperationen durchführen kann, braucht es keine Mathearbeit zu schreiben. Auch hier braucht es wieder individuelle Lösungen für jeden einzelnen Fall.
Wie gut stehen die Chancen für einen Nachteilsausgleich?
Schulen tun sich mit einem Nachteilsausgleich oft sehr schwer, gerade dann, wenn es keinen Erlass mit eindeutigen Anweisungen gibt und die Beeinträchtigung auch nicht sichtbar ist. Das gilt vor allem für die weiterführenden Schulen. Sie erwarten, dass die Grundfähigkeiten aus Lesen, Schreiben und Rechnen in der Grundschule vermittelt wurden und sehen einen Nachteilsausgleich eher als Bevorzugung von Kindern. Diese Haltung entsteht übrigens nicht nur durch die Lehrkräfte oder fehlende Vorgaben durch die Länder, sondern auch durch den Druck aus der Elternschaft.
Jeder will das Beste für seinen Sprössling, sieht eine mögliche Übervorteilung von anderen Kindern sehr kritisch. Das ist absurd. Wenn ein Kind eine Brille braucht, darf es sie auch bei der Klassenarbeit tragen. So ist es auch bei einem Kind mit Legasthenie. Wenn das Rechnen oder Rechtschreiben schwerfällt, dann ist der Nachteilsausgleich die „Brille“ der Kinder. Die Schwächen liegen nicht im Wissen, sondern in den technischen Fertigkeiten, das Wissen niederzuschreiben oder den mangelnden Rechenfertigkeiten.
Was können Eltern tun, um einen Nachteilsausgleich für ihr Kind zu bekommen?
Wenn eine medizinische Diagnose vorliegt, besteht ein Rechtsanspruch auf einen Nachteilsausgleich, und zwar abgeleitet aus dem Grundgesetz Art. 3 und der UN-Behindertenrechts-Konvention. Zur Not können sich Eltern also juristisch gegen eine mögliche Verweigerung wehren. Natürlich würden wir allen raten, zuerst den Dialog mit der Schule zu suchen und gemeinsam Lösungen zu finden. Das klappt in der Regel auch ganz gut.
Allerdings müssen auch die Eltern in der Lage dazu sein, sich proaktiv zu kümmern. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit, zum Beispiel weil Sprachbarrieren die Kommunikation erschweren. Deshalb liegt aus meiner Sicht die Verantwortung nicht nur bei den Eltern, sondern auch bei den Pädagogen, die proaktiv nach einem anforderungsgerechten Nachteilsausgleich und individuellen Fördermöglichkeiten für die Kinder suchen sollten.
Wie viel Sinn haben außerschulische Fördermaßnahmen?
Da sprechen Sie ein großes Problem an. Die Diagnose von Legasthenie oder Dyskalkulie wird von den Krankenkassen bezahlt. Eine Förderung außerhalb der Schule wird allerdings nicht übernommen. Die Krankenkassen sehen die Schulen in der Verantwortung Lesen, Schreiben und Rechnen zu vermitteln. Doch leider funktioniert das vielerorts nicht. Deshalb gehen Eltern mit dem nötigen Kleingeld dazu über, sich außerschulische Fördermaßnahmen zu suchen. Die Kosten für eine sogenannte Lerntherapie müssen sie in der Regel selbst tragen, oft sind das bis zu 300 Euro pro Monat. Aus unserer Sicht ist das deshalb keine Alternative zu einer Stärkung von innerschulischer Förderung durch qualifizierte Pädagoginnen. Hilfreich wäre auch die Einbindung von gut qualifizierten externen Förderkräften in die Schulen.