Jugendforscher Hurrelmann über Corona-Exzesse: Den jungen Menschen fehlt etwas
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/V4464I42Z5H3NJPLHWMA44Z2ZQ.jpeg)
Frankfurt/Main: Menschen sitzen am Brunnen vor der Alten Oper. Als Reaktion auf die Randale am vergangenen Wochenende sind mehr Polizisten im Einsatz, um Krawalle zu verhindern.
© Quelle: Frank Rumpenhorst/dpa
Es kommt zwar immer wieder zu Lockerungen der Corona-Maßnahmen, doch noch immer ist das Leben durch Einschränkungen geprägt. Darunter leiden Jugendliche in Deutschland, deren Alltag weit von der Situation vor der Pandemie entfernt ist. Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) erklärt einer der bekanntesten Jugendforscher der Bundesrepublik, Klaus Hurrelmann, warum Jugendliche dringend wieder mehr Freiräume brauchen.
Herr Hurrelmann, in der Corona-Pandemie wurde viel über die Situation von Risikogruppen, von Arbeitnehmern oder Kindern gesprochen. Wurden Jugendliche in der Corona-Krise vergessen?
Ja, ich habe den Eindruck, dass das so ist. Wir merken jetzt, dass sich die Jugendlichen zu Wort melden. Es fiel zuerst durch die nächtlichen Unruhen und Krawalle in Stuttgart und in Frankfurt auf. Das war zwar eine bestimmte Gruppe von Jugendlichen, aber sie machten darauf aufmerksam, dass den jungen Menschen etwas fehlt. Dass sie keinen Raum zur eigenen Entfaltung haben und im Grund gezwungen waren und sind, in öffentliche Parks zu gehen, weil alle Angebote für sie geschlossen sind.
Junge Männer hilfloser als junge Frauen in Corona-Krise
Was fehlt den jungen Menschen konkret?
Der schulische Alltag ist nicht mehr da, der Ausbildungsalltag nur noch teilweise. Aber vor allem sind alle Clubs, alle Freizeitorganisationen praktisch ausgefallen. Es fehlt an Raum und den Möglichkeiten, sich zu erproben, zu experimentieren, auch um mal Grenzen zu überschreiten. All das, was für das Jugendalter, also die Zeit ungefähr zwischen 14 und 24 Jahren, einfach notwendig ist, wurde den jungen Leuten in der Corona-Zeit praktisch verwehrt.
Leiden manche Gruppen stärker unter den Einschränkungen als andere?
Es ist auffällig, dass junge Männer etwas hilfloser in der Krise reagieren als junge Frauen. Letztere haben einen Bildungsvorsprung und sind etwas krisenfester, sie haben die größere Geduld und Flexibilität. Dahinter steht auch eine sehr flexible Vorstellung von der Geschlechtsrolle Frau. Junge Frauen haben sich emanzipiert, während bei den Männern noch sehr traditionelle Männerbilder vorherrschen. Die machen aber nicht stark, sondern schwach. Es gibt bei den jungen Menschen in der Pandemie auch einen deutlichen Unterschied nach Bildungsgrad und sozialer Herkunft. Wer eher bildungsschwach ist, aus einem wirtschaftlich schlecht gestellten Elternhaus kommt, für den ist das alles sehr viel schwerer zu ertragen als für jemanden, der relativ gut dasteht.
Droht eine Generation durch die Corona-Pandemie verloren zu gehen?
Wenn es keine guten Angebote für die Jugendlichen gibt, kann sich das rächen. Ihnen wurde im Vergleich zu den älteren Generationen mehr weggenommen. Rentner können fast so weiterleben wie bisher. Und viele der Berufstätigen merken zwar auch, dass ihr Leben neu sortiert wird, es aber im Großen und Ganzen weitergeht.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/5LGAV664UVHF7KTJFV5XM7VYFI.jpg)
Prof. Klaus Hurrelmann arbeitet seit 2009 als Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. In Deutschland gilt er als einer der prominentesten Jugendforscher, war unter anderem an den Shell-Studien zu den Einstellungen junger Menschen beteiligt.
© Quelle: Privat
Auch während Corona: Jugendliche brauchen Spielräume
Welche Auswirkungen können die coronabedingten Beschränkungen haben?
Mit der Pubertät merkt man, dass sich Körper und Psyche verändern. Ich denke über mich und die Welt nach, muss mich ausprobieren und testen, wer ich bin, um meine Kräfte einzuschätzen. Da sind Restriktionen schwierig. Und nach der Pubertät kommt eine Phase, in der man sich im Grunde darauf vorbereitet, ein Bürger, ein Berufstätiger und eines Tages ein Familienmensch zu werden. Dafür braucht man Spielräume. Wenn es die über viele Monate nicht gibt, könnten daraus vielleicht noch nicht dramatische, aber doch ernste Entwicklungsstörungen entstehen.
Welche Störungen drohen konkret?
Im Jugendalter gibt es typische Entwicklungsaufgaben. Etwa sich zu bilden, auf den Beruf vorzubereiten. Da sind die jungen Menschen jetzt gestört worden, im Grunde ist der Bildungsprozess über einen längeren Zeitraum ausgesetzt. Dadurch entstehen Blockaden, die später zu Misserfolgen beim Berufseinstieg und zu Jugendarbeitslosigkeit führen können. Einen solchen misslungenen Start schleppt man sein ganzes Leben mit sich rum. Auf der Qualifikationsebene zeigt sich, dass sich die Blockaden langfristig in Leistungsschwächen oder Qualifikationsproblemen niederschlagen können.
Können auch abseits des Bildungsbereichs Probleme entstehen?
Im sozialen Bereich muss man auch genau hinschauen. Wir haben eine sehr digitalaffine Generation. Das hatte den Vorteil, dass sie den Lockdown ganz gut bewältigen konnte. Aber jetzt hat das Digitale überhandgenommen. Eine wirkliche Entfaltung von Intelligenz, von Sinnen, von Wahrnehmung ist ausgefallen. Hier können langfristig Kontaktstörungen und Wahrnehmungsverzerrungen entstehen oder Konzentrationsschwächen anwachsen.
Jugendliche brauchen also dringend wieder mehr Freiheit. Brauchen sie ein “Recht auf Feiern”?
Viele der Jugendlichen nehmen sich jetzt dieses Recht. Ich wohne direkt an einem Park und kann sehen, wie sich die jungen Leute diese öffentliche Zone erobern, dabei nicht immer den Abstands- und Hygieneregeln folgen – und auch nicht unbedingt den guten Umgangsformen. Sie nehmen sich ihr Freiheitsrecht. Es ist jetzt Aufgabe der Kommunen und Städte, zu überlegen, wie sich das steuern lässt. Wenn man das an manchen Stellen unterbindet, muss man woanders Angebote machen und den jungen Leuten auch Möglichkeiten anbieten, sich mit Freunden zu treffen und sich zu beweisen.
Jugendliche in Entscheidungen einbinden
Wie und wo brauchen junge Menschen jetzt Unterstützung?
Für die schulpflichtigen Jugendlichen ist es ganz entscheidend, dass die Schule wieder funktioniert und Angebote macht, aber auch Spielräume lässt. Dabei müssen die Schüler beteiligt werden, etwa, wenn es darum geht, wie die Wege in der Schule verlaufen sollen oder wie moderner digitaler Unterricht aussehen kann. Ihre Stimme ist bislang nur wenig abgefragt worden. Es wäre auch wichtig, die Jugendlichen bei Fragen nach Freiräumen und Unterhaltungsmöglichkeiten in der Freizeit zu beteiligen. Das erhöht die Möglichkeiten für sie, in der Gruppe zu reflektieren und Vorschläge zu machen. Selbst gemachte Regeln werden zudem viel besser eingehalten als von außen aufgestellte. Eine möglichst weite Rückkehr zum Alltag der Jugendlichen muss das Ziel sein, unter Berücksichtigung des Infektionsrisikos.
Wie können sich Jugendliche selbst helfen?
Wir haben eine politische, konstruktive, engagierte Generation. Das ist eine sehr gute Ausgangslage für die eben angesprochene Beteiligungspolitik. Ich denke, wenn die Ferien vorbei sind, werden Proteste vonseiten der jungen Menschen kommen. Diese Generation war wie wir alle ein halbes Jahr in Schockstarre, aber es gibt in ihr mit der Fridays-for-Future-Bewegung einen sehr stark politischen Teil. Der wird sich nach der Sommerpause wieder zu Wort melden und Vorschläge machen, wie man mit der Pandemie umgeht, dabei aber auch das eigentliche Thema, die Gefährdung der Umwelt, nicht übersehen. Wenn die Proteste auch nur annähernd so kreativ bleiben wie vor der Pandemie, werden wir neue Formen von Protest, Demonstration und Auseinandersetzung mit der Lebenssituation haben.