Schau mich an: So kämpfen Dicke gegen Diskriminierung
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Jasmin Mairhofer (@real_better_me) kämpft als Bodypositivity-Aktivistin für mehr Diversität.
© Quelle: Michael Strobl
Jasmin Mairhofer ist fröhlich, aktiv und selbstbewusst – das könnte man zumindest meinen, wenn man sich ihren Instagram-Account @real_better_me so anschaut. Dort springt die 35-Jährige mal juchzend in einen Pool, posiert lasziv in Unterwäsche oder tanzt breit grinsend in Sportklamotten.
Aber real_better_me ist kein reines Spaßprojekt, vielmehr ein lautes „Trotzdem“. Denn Jasmin Mairhofer ist dick. Um genau zu sein: sehr dick. Bei einer Körpergröße von 1,67 m bringt die Österreicherin um die 100 Kilo auf die Waage. Damit hat sie einen Body-Mass-Index (BMI) von 35,9 und gilt als adipös, also stark übergewichtig. Auf Instagram kämpft sie als Bodypositivity-Aktivistin für mehr Diversität und zeigt ihren Körper bewusst freizügig – obwohl er nicht dem europäischen Schönheitsideal entspricht.
Zwei Drittel der Männer und über die Hälfte der Frauen in Deutschland sind – nach einer Erhebung des Robert Koch-Instituts – übergewichtig. Bei jedem vierten Erwachsenen liegt der BMI bei über 30 – sie gelten damit als adipös, Prävalenz steigend. Wer einen niedrigen sozioökonomischen Status hat, ist besonders häufig hochgewichtig.
Ganz normale Zumutungen?
Gesehen wird das nicht besonders gern. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sprach bereits Ende der Neunzigerjahre von Adipositas als „weltweiter Epidemie“ und proklamierte den BMI als Maßstab für sogenanntes Normalgewicht. Mittlerweile ist der zwar stark umstritten, aber bislang kaum ersetzt.
Auch gesellschaftlich ist Fatshaming trotz Gegenbewegungen wie #bodypositivity oder #fatacceptance noch tief verwurzelt: 70 Prozent finden Hochgewichtige unästhetisch, jeder Achte vermeidet bewusst den Kontakt, wie die DAK in einer Forsa-Umfrage feststellte. Dicke Körper werden – laut einer Studie aus Tübingen – mit einem geringen Bildungsstand assoziiert, die Sitze im öffentlichen Nahverkehr sind häufig zu klein, und es scheint die normalste Zumutung der Welt zu sein, dass Hochgewichtige im Flugzeug für zwei Sitzplätze bezahlen müssen.
2014 klagte eine Frau, weil sie als Geschäftsführerin beim Deutschen Borreliose-Bund wegen ihres Gewichts abgelehnt wurde. „Per E-Mail wurde ihr gesagt, dass sie zwar qualifiziert sei, aber natürlich so nicht vorzeigbar. Sie müsse erst abnehmen“, sagt Friedrich Schorb, Soziologe und Fat-Studies-Autor, gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. „Sie hatte Konfektionsgröße 42, das entspricht dem Durchschnitt von Frauen in Deutschland.“
Die Klage scheiterte letztlich, weil das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zwar vor Diskriminierung etwa wegen der Hautfarbe oder des Alters schützt – nicht aber wegen des Gewichts.
Es gibt für dicke Menschen nur das Angebot ein dünner Mensch zu werden.
Natalie Rosenke, Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung
Kein Kopf, aber viele Speckrollen
Viel Platz haben Dicke nicht in der Gesellschaft. Und während die Sensibilität für Benachteiligung etwa wegen der Hautfarbe oder der sexuellen Orientierung in den vergangenen Jahren gestiegen ist, bleibt die Stigmatisierung Dicker in Deutschland weiter ein Nischenthema. „Die sozialen Drangsalierungen und Exklusionen dicker Menschen werden in der Öffentlichkeit noch kaum als solche wahrgenommen“, heißt es auch im Sammelband „Fat-Studies in Deutschland“.
Auch die öffentliche Sichtbarkeit wird von bestimmten Bildern dominiert: „Artikel, bei denen ein Zusammenhang mit Dicksein besteht oder hergestellt wird, werden oft mit dem sogenannten Headless-Fattie bebildert“, sagt Natalie Rosenke von der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung. „Zu sehen ist nur der Rumpf einer dicken Person in erschlaffter Körperhaltung ohne Kopf.“ Eine Darstellung, die dicke Menschen einzig auf den Körperumfang reduziert.
Bodypositivity-Aktivistinnen wie Jasmin Mairhofer wollen das ändern und setzen sich dafür ein, dass dicke Körper sichtbarer werden. „Es existieren nun mal verschiedene Körperformen und die haben auch das Recht, sich überall so zu präsentieren, wie sie wollen“, sagt Mairhofer. Durch die Fotos setze sie sich immer wieder damit auseinander, wie sie aussehe. „Ich weiß, wie meine Speckrollen am Bauch fallen, wenn ich sitze, und dass mein Po Dellen hat“, sagt Mairhofer. „Es ist mir wichtig, dass das zur Normalität gehört.“
Gefährliche Stigmata
Denn die Folgen der strukturellen Benachteiligung sind mitunter fatal: „Besonders viel Diskriminierungserfahrungen schildern dicke Menschen im Bereich Gesundheit“, sagt Natalie Rosenke. „Bestimmte Abtastungen werden etwa nicht oder unzureichend durchgeführt, weil sich das medizinische Fachpersonal vor dem dicken Körper ekelt. Tumore werden so oft erst sehr spät entdeckt.“ Weiter gebe es keine ausreichende Beratung. „Abnehmen wird häufig als die einzige Gesundheitsförderung angeboten. Es gibt für dicke Menschen also nur das Angebot ein dünner Mensch zu werden“, sagt Rosenke.
Das bestätigt auch Claudia Luck-Sikorski, Präsidentin der SRH Hochschule für Gesundheit, die zum Thema Stigma und Adipositas forscht: „Bei vielen Ärztinnen und Ärzten gilt Übergewicht – wie Rauchen – als Lifestyleproblem. Dann heißt es oft: Der Patient soll sich da mal selber drum kümmern, er hat die Wahl. Aber so ist es natürlich nicht“, sagt Luck-Sikorski. Das liege auch daran, dass Adipositas erst seit vergangenem Jahr als chronische Erkrankung anerkannt wurde. „Übergewicht war lange kein Teil der medizinischen Ausbildung.“
Ideal der Leistungsfähigkeit
Dass Hochgewichtige die Wahl hätten, ist eine weitverbreitete Annahme und die Rechtfertigung für Stigmatisierungen aller Art. Dick ist nur, wer zu faul, zu dumm oder einfach zu willensschwach ist, um abzunehmen – und dementsprechend selbst schuld. „Uns wird ständig suggeriert, wir hätten den „Alles ist machbar“-Körper: Nimm diese Creme oder mach diese Diät. Du könntest so viel mehr sein. Mach halt was draus“, sagt Natalie Rosenke. „Ein dicker Körper wird vor diesem Hintergrund als Leistungsverweigerung gelesen und dementsprechend bestraft.“
„Jemand, der dick ist, symbolisiert, dass er oder sie sich gehen lässt, sich nicht im Griff hat und auch noch den Leuten auf der Tasche liegt“, sagt Friedrich Schorb. „Das widerspricht dem Ideal der Leistungsfähigkeit. Stigmatisierung ist aus Sicht der Gesellschaft dann gerechtfertigt oder sogar notwendig, um soziale Normen durchzusetzen.“
Erfolgreich ist das allerdings nicht: „Nach Stigmatisierungserfahrungen haben Menschen eher ein ungesünderes Ess-und Bewegungsverhalten als vorher“, sagt Luck-Sikorski. „Das ist ein häufiger Bewältigungsmechanismus auf die aggressive Ausgrenzungserfahrung.“
Kein „Alles ist machbar“-Körper
Realistisch sei, dass Hochgewichtige 5 bis 10 Prozent des Ausgangsgewichts ohne Operation abnehmen können. Mehr nicht. Dick sind sie dann in der Regel immer noch. „Wir sehen in der Behandlung praktisch keine übergewichtigen Patientinnen und Patienten, die noch nie versucht haben, abzunehmen“, sagt Luck-Sikorski. „Wenn es so einfach wäre, würden sie es einfach tun.“ Ein Problem sei die oft fehlende Individualisierung und Berücksichtigung persönlicher Lebensumstände bei der Therapie.
„In der Wissenschaft ist es Konsens, dass Übergewicht eine Folge von Genetik und Umweltfaktoren und sozio-strukturellen Faktoren ist“, sagt Friedrich Schorb. „Trotzdem wird immer noch geglaubt, alle könnten durch Disziplin Normalgewicht erreichen. Jeder kennt jemanden, der es geschafft hat. Aber das ist völlig illusorisch.“
Auch Jasmin Mairhofer kämpft seit ihrer Kindheit mit ihrem Gewicht, hat oft versucht abzunehmen. In der Grundschule riefen ihr Mitschüler „Dicke Sau“ hinterher, nachmittags weinte sie deswegen bei ihrer Oma. „Ich hatte immer das Gefühl, dass ich zu viel bin. Ich war nicht dick, aber alle anderen Mädchen waren viel zierlicher als ich“, sagt Mairhofer. Nach der Schule nahm sie zu, dann wieder ab. Zählte akribisch Kalorien und bestrafte sich, wenn sie mehr als einen Apfel am Tag aß. „Das war zwar effektiv, aber gesund war das natürlich nicht“, sagt Mairhofer. Und als sie schwanger wurde, ging das Gewicht wieder hoch.
„Ich wollte nur meine Ruhe“
Bei Instagram meldete sie sich zunächst an, um abzunehmen. Dort sieht sie, wie andere Frauen ihre vermeintlichen Schönheitsmakel – Rollen am Bauch oder Dellen am Po – nicht kaschieren, sondern lächelnd in die Kamera halten. #bodypositivity – Akzeptanz statt Scham. „Es war so befreiend zu sehen, dass auch andere Frauen Cellulite haben“, sagt Mairhofer. „Ich habe immer gedacht, dass ich abnehmen möchte. Aber eigentlich wollte ich einfach nur mit mir zufrieden sein und meine Ruhe haben.“
Den eigenen Körper so zu akzeptieren wie er ist, ohne ihn mit dauerschlechtem Gewissen auf Idealmaße trimmen zu wollen – die Bodypositivity-Bewegung ist wohl so etwas wie der Albtraum der selbstoptimierten Leistungsgesellschaft. Denn wer okay mit sich ist, arbeitet – in dieser Logik – nicht mehr an sich und seiner eigenen Verbesserbarkeit. So ist es kaum verwunderlich, dass der Bewegung viel Kritik entgegenschlägt: Sie glorifiziere ein krankhaftes Schönheitsideal ist einer der häufigsten Vorwürfe.
Betroffene haben schnell das Gefühl doppelt versagt zu haben. Erst haben sie es nicht geschafft abzunehmen und dann nicht, sich trotzdem gut zu finden.
Friedrich Schorb, Soziologe
Scheinheilige Argumente
Aus Sicht der Expertinnen und Experten ein scheinheiliges Argument. „Wir reden dem Skifahrer, der seinen Meniskus riskiert, ja auch nicht rein. Warum sollte das bei dicken Menschen anders sein?“, sagt Luck-Sikorski. „Unser Sozialsystem ist so ausgelegt, dass jeder individuell entscheiden kann, wie er mit seiner Gesundheit umgeht.“ Außerdem könne die Bodypositivity-Bewegung durchaus positive Auswirkungen auf die psychische Belastung dicker Menschen haben.
„Es ist viel gesünder, wenn man selbstbewusst mit seinem Körper umgeht, als wenn man sich versteckt, versucht mit irgendwelchen radikalen Methoden abzunehmen und dabei eine Essstörungen entwickelt“, sagt auch Friedrich Schorb. „Stigmatisierungen schaden der Gesundheit letztlich mehr als Übergewicht.“
Kritisch sehe er an der Bodypositivity-Bewegung eher, dass die Verantwortung gegen die Stigmatisierung vorzugehen, auf die Betroffenen abgewälzt werde. „Da wird dann vermittelt: Du kannst dich doch lieben wie du bist. Lass dir nichts einreden. Aber so einfach ist es nicht“, sagt Schorb. „Betroffene haben schnell das Gefühl doppelt versagt zu haben. Erst haben sie es nicht geschafft abzunehmen und dann nicht, sich trotzdem gut zu finden.“
Auch habe nicht jeder und jede die gleichen Ressourcen: „Übergewichtige in der BP-Bewegung sind häufig trotzdem jung, hübsch und nicht finanziell benachteiligt“, sagt Schorb. „Für viele andere gilt das aber nicht. Die können sich nicht einfach so eine schicke Insta-Seite basteln.“
Diskriminierung ist Teil menschlicher Natur
Dass überhaupt diskriminiert wird, ist schlicht Teil der menschlichen Natur. „Jeder von uns hat seine Kategorien und stigmatisiert irgendwann mal irgendwen irgendwie“, sagt Luck-Sikorski. „Evolutionär gesehen ist das auch durchaus sinnvoll, weil es eine starke gruppenbindende Funktion hat und wir manchmal sehr schnell Situationen einordnen müssen. Dafür brauchen wir Kategorien.“
Wichtig sei aber, da nicht stehen zu bleiben. „Eine diskriminierungsfreie Gesellschaft wird es wohl nie geben. Aber eine, die sich dessen bewusst ist und das auch immer wieder thematisiert, ist ja schon mal ein erster großer Schritt“, sagt Schorb.
Mit politischer Aktionskunst gegen Stigmatisierung: Natalie Rosenke von der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung.
© Quelle: Rolf Schulten
Auf politischer Ebene heißt das etwa für Natalie Rosenke auch, dass das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) um das Merkmal Gewicht ergänzt wird – und nicht nur unter dem Stichwort Behinderung verhandelt wird. Denn: „Gewichtsdiskriminierung beginnt ausgesprochen nahe am sogenannten Normalgewicht“, sagt sie. „Damit kann ein rechtlicher Schutz vor Diskriminierung durch Kategorien wie chronische Krankheit oder ein soziodynamisches Verständnis des Begriffs der Behinderung nicht vollständig hergestellt werden.“
Dem steht – zumindest von Seiten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes – nichts entgegen. Pressesprecher Sebastian Bickerich sagt auf Anfrage: „Die Antidiskriminierungsstelle hält es grundsätzlich für sinnvoll, eine Erweiterung der im deutschen AGG geschützten Merkmale zu prüfen.“