Sexologin Ann-Marlene Henning: “Die übertriebene Scham kann einiges kaputtmachen“
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Das Thema Sexualität ist auch heute noch mit viel Scham belegt.
© Quelle: Fizkes/Getty Images/iStockphoto
Frau Henning, warum haben Sie Ihren Schwerpunkt von Neuropsychologie auf das Thema Sexualität verlagert?
Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens habe ich immer gern über Sex geredet. Ich finde das Thema total spannend, weil da so ein geiler Drive drin ist. Die Leute werden wach oder unsicher oder wütend, wenn sie darüber sprechen. Es ist so viel Power in der Sexualität. Sie ist eine Grundenergie in unserem Körper, die wir immer haben. Egal, wie schlecht es uns geht. Es gibt sogar Studien, die besagen: Je schlechter es uns geht, desto mehr Sex haben einige Leute, weil es entspannt. Und zweitens ist mir klar geworden, nachdem ich immer wieder mit Klienten und Menschen gesprochen habe, wie viel Falschwissen im Umlauf ist und wie viel Druck dadurch entsteht. Es braucht Aufklärung.
Was waren denn so die skurrilsten Annahmen, die Ihnen in Erinnerung geblieben sind?
Ein Mann, der meinte, seine Frau sei frigide, weil sie von seinen schnellen Penis-rein-und-raus-Bewegungen nicht kommen konnte. Oder die Eltern, die das Genital ihrer kleinen Tochter “Popo vorne” nennen. Es gibt so viele schlechte oder schamhafte Namen für die Genitalien der Frau. Das Wort Scheide etwa, das ist regelrecht falsch. Es gibt eine Vulva, das äußere Genital, und eine Vagina – die liegt im inneren des Körpers. Die grundlegendsten Dinge zur Anatomie der Frau sind den Leuten fremd. Da ist so viel Scham. Ein Problem ist auch die Kirche und wie sie mit dem Thema Sex umgeht. Dass Sex immer etwas Negatives hat, kommt aus diesem kirchlichen Bereich.
50 Prozent der Frauen haben irgendeine Form von Schmerz beim Sex und machen aus Scham trotzdem weiter mit.
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Zur Person: Ann-Marlene Henning studierte an der Universität Hamburg Neuro-Psychologie, bevor sie in ihrer alten Heimat Dänemark als Psychologin zu arbeiten begann. Später absolvierte sie dort und in der Schweiz das Studium der Sexologie und Paartherapie. In Hamburg zurück, führt sie heute eine Praxis für Paar- und Sexualtherapie und hat 2019 ihren Master in Sexologie an der Hochschule Merseburg gemacht. Sie ist Autorin zahlreicher Bestseller und bekannt durch ihre TV-Dokumentation "Make Love – Liebe machen kann man lernen“, die 2017 für den Deutschen Fernsehpreis nominiert war. Der neue Sexpodcast "Ach, komm!" ist ab 9. Juli immer donnerstags ab 17 bei Spotify, iTunes, radio.de und allen bekannten Podcast-Plattformen abrufbar.
© Quelle: Privat/Bieler
Dabei hat die Kirche ja heute für viele gar nicht mehr einen so hohen Stellenwert.
Aber die alt angelegte Scham, die es seit Jahrhunderten gibt, die liegt da ja noch. Die ist übrigens nicht mit der natürlichen Scham zu verwechseln. Die schätze und ehre ich sehr, weil Sex intim ist. Aber die übertriebene Scham, die kann einiges kaputt machen. Schmerzen beim Sex wären so ein Thema. 50 Prozent der Frauen haben irgendeine Form von Schmerz und machen aus Scham trotzdem weiter mit.
Es ist so viel Power in der Sexualität. Sie ist eine Grundenergie in unserem Körper, die wir immer haben.
Was hat Sie als Dänin, die gern offen über Sex redet, ins doch recht prüde Deutschland gebracht?
Die Liebe. Ich war 21 Jahre. Ich habe ein Sabbatjahr von meinen Studien gemacht, um mit meinem deutschen Freund zusammen zu sein. Nach zwei Jahren war die Beziehung aus, ich bin aber geblieben. Irgendwann begann ich dann mit dem Psychologiestudium. Da hatte mich damals eine Freundin drauf gebracht, der ich in einer Ehekrise sehr geholfen hatte.
Themen, die in der Therapie aufkommen, haben ja sicher auch immer wieder mit den eigenen Themen zu tun.
Im Idealfall hat man die Themen bearbeitet, sodass sie einen nicht mehr triggern. Denn das sollte möglichst nicht passieren. Mein größtes Anliegen in der Therapie ist nicht, dass ich Paare zusammenhalten oder trennen möchte, weil das eventuell schlauer wäre. Stattdessen möchte ich erreichen, dass jeder Mensch, wenn er nach einer Stunde hier rausgeht, ein bisschen nachgereift ist oder deutlicher sehen kann, was er vorher nicht sehen konnte oder wollte. Dann war es eine gute Stunde. Die Arbeit an sich selbst, an ihren Themen, kann ich meinen Klienten nicht ganz abnehmen, die müssen sie zum großen Teil selbst tun. Ich halte nur den Spiegel vor.
Wie alt sind Ihre Klienten?
Die jüngsten sind jetzt um die 30 Jahre und die ältesten etwa 80 Jahre alt.
Bei Erektionsstörungen geht es sowohl um partnerschaftliche Lösungen als auch darum, dass die Männer lernen, ihre Erregung besser aufzubauen.
Verändern sich die sexuellen Themen im Laufe des Alters?
Gerade bei den älteren Frauen kommen die Themen, die ich auch von Teenagern kenne. Diese sexuell streng erzogenen 70- bis 80-jährigen Frauen sagen plötzlich: Jetzt will ich! Viele haben sich ein Leben lang zurückgehalten und die Sexualität ihres geliebten Mannes gelebt, der nun gestorben ist. Jetzt wollen sich sexuell ausleben und stellen Fragen, die sie nie gestellt haben, weil sie das nie durften und immer mit Kindern und Haushalt beschäftigt waren.
Und was treibt die Männer aus dieser Generation um, die zu Ihnen kommen?
Die haben häufig ein Problem mit ihrer Erektion. Oder merken nach einigen Gesprächen, wie emotional zurückhaltend sie ihr Leben gelebt haben. Das ist manchmal sehr traurig.
Was raten Sie denen?
Grundsätzlich rate ich nie zu etwas. Ich frage! Durch die Antworten, die ich bekomme, beginne ich das sexuelle System der jeweiligen Person immer besser zu verstehen. Erst dann werden Lösungen gesucht. Denn jeder Mensch ist anders. Bei Erektionsstörungen geht es sowohl um partnerschaftliche Lösungen als auch darum, dass die Männer lernen, ihre Erregung besser aufzubauen. Genau wie die meisten Frauen es ihr Leben lang ohnehin mussten. Das hat mit Atmung, Muskelspannung und Bewegung zu tun. Darüber geht einiges mehr – sinnvoll eingesetzt.
Wenn ein Geschlecht generell weniger wert ist als das andere, und das ist es, solange eine Frau weniger Geld bekommt für dieselbe Arbeit, dann hat es auch Einfluss auf die Sexualität.
Wie verhält es sich denn mit der Rollenverteilung und dem Einfluss auf die Sexualität grundsätzlich?
Studien haben gezeigt, dass Frauen, die sich selbst als Feministinnen empfinden oder die herkömmliche Geschlechterrollen infrage stellen, positivere körperliche Selbstbilder haben. Lesbische Frauen haben sogar mehr Orgasmen. Warum wohl? Die trauen sich, sich selbst als lustvolle sexuelle Wesen zu spüren. Sie unterliegen den üblichen Mann-Frau-Erwartungen weniger. Solche Frauen machen den Sex nicht nur mit, sondern genießen ihn. Die nehmen sich, was sie brauchen.
Was bedeutet das für die Geschlechterrollen und die sexuelle Zufriedenheit?
Wenn ein Geschlecht generell weniger wert ist als das andere, und das ist es, solange eine Frau weniger Geld bekommt für dieselbe Arbeit, dann hat es auch Einfluss auf die Sexualität. Diese Frauen lernen von Anfang an: Sie dürfen weniger, sie können weniger, sie bekommen weniger bezahlt. Wie kann das keinen Einfluss auf die Sexualität haben?
Wie können Sie diese Barrieren als Sexologin aufweichen?
Indem ich so weit wie möglich darüber berichte. Das ist wichtig, dann steht es nämlich irgendwo. Die Menschen können sich informieren und darüber nachdenken.
Lesbische Frauen haben sogar mehr Orgasmen. Warum wohl? Die trauen sich, sich selbst als lustvolle sexuelle Wesen zu spüren. Sie unterliegen den üblichen Mann-Frau-Erwartungen weniger.
Das muss ein unglaublich langer Prozess sein, diese Barrieren aufzuweichen…
Ja, das ist sehr schwer. Diese ganzen Zusammenhänge sind schon so alt, wir haben sie uns wörtlich einverleibt. Das heißt, die Veränderungen dauern länger. Auch wenn viele Mädchen davon heute wissen, handeln sie am Ende doch wieder so wie gehabt. Der erste Schritt ist aber nach wie vor: Sich die Missstände bewusst zu machen und sich eine eigene Meinung zu bilden.