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Sexualtherapeutin: „Küssen ist viel intimer als Geschlechtsverkehr“

„Beim Kuss trifft ein Headquarter auf das andere“, sagt die Münchener Sexualtherapeutin Heike Melzer.

„Beim Kuss trifft ein Headquarter auf das andere“, sagt die Münchener Sexualtherapeutin Heike Melzer.

Hannover. Küssen macht Spaß, hält gesund und ist intim – sogar "sehr, sehr intim", sagt zumindest die Münchner Neurologin und Psychotherapeutin Heike Melzer. Einfach nur gespitzte Lippen, die da aufeinander treffen? Fehlanzeige.

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Emotionen, Wünsche, die eigene Persönlichkeit – all das wird mit dem Knutschen zum Ausdruck gebracht. Was den Kuss so besonders macht und warum er manchmal sogar wichtiger als Sex ist, erklärt Heike Melzer, die sich auf Paar- und Sexualtherapie spezialisiert hat, im Interview.

Frau Melzer, was bedeutet das Küssen für Sie?

Es gibt ja ganz verschiedene Formen des Küssens: Die Begrüßungsküsse unter Freunden, der Kuss auf den Ring des Papstes. Küsse, die so intim sind, dass Krankheiten übertragen werden können. Mit dem Kuss kann aber auch der erste Check des potenziellen Partners durchgeführt werden. Und bei längeren Beziehungen gibt er durchaus Auskunft über den Stand der Dinge.

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Wenn wir von einem Liebespaar ausgehen, also einem Kuss auf den Mund oder auch ein Zungenkuss, ist das ein sehr, sehr intimer Akt. Ich würde sogar sagen, intimer als der Geschlechtsverkehr. Aber das hängt immer auch davon ab, welche Bedeutung wir ihm zukommen lassen.

Was macht den Kuss intimer als Sex?

Beim Kuss trifft das Headquarter des einen auf das Headquarter des anderen. Oben mit dem Kopf, da schmecken, sehen, riechen, hören und fühlen wir – dort sind wir dem Gegenüber wesentlich näher als beim reinen Geschlechtsakt. Wir sind uns wahnsinnig nah und entscheiden, ob wir auch biochemisch zueinander passen. Küsse sind verbindend. Da ist auch immer ein Stück Seele und Emotionalität mit von der Partie.

Das ist auch ein Grund dafür, dass Prostituierte durchaus für Vaginalsex parat stehen, für den Girlfriend-Sex mit Zungenküssen extra Geld verlangen oder dies überhaupt nicht im Sortiment haben. Da sagen die Frauen dann: „Sex kannst du haben, aber meine Seele kriegst du nicht.“

Wem ist Küssen wichtiger – Frauen oder Männern?

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In der Geschlechterfrage tue ich mich schwer. Ob Mann oder Frau, wir sind alle mit männlichen und weiblichen Anteilen ausgestattet. Weibliche verbinde ich da eher mit Beziehung, Berührung und Verbindlichkeit, während bei den Männlichen eher Triebe, Lust und Abenteuer im Spiel sind. Wenn man es so klischeemäßig betrachtet, dann ist den Frauen das Küssen und Berührung wichtiger, während bei Männern das Allround-Spaßpaket stimmen sollte.

Sie sagten, ein Kuss könne für den ersten Check entscheidend sein.

Ja, absolut. Es ist der erste Test, der entscheiden kann, ob es funkt oder nicht – ob man den Anderen eben schmecken, riechen, hören kann. Wenn es beim Küssen nicht passt, würde ich im Zweifelsfall die Hose oder den Rock anlassen. (lacht)

Was sagt es über eine Beziehung aus, wenn man das Küssen einstellt?

Küsse sind ein Austausch von Verbindlichkeit, sie zeigen: „Wir gehören zusammen.“ Paare, die nicht mehr küssen, entfremden sich mit der Zeit. Es zeigt nämlich, dass man dem Partner nicht mehr so nah sein will, ihn im Prinzip nicht mehr in seine Intimzone reinlassen möchte. Manchmal findet noch Geschlechtsverkehr statt, aber das Küssen – es ist einfach zu intim und nah. Also auf jeden Fall eine Form der Entfremdung, die man beobachten muss. Nebenbei sind Paare die sich Küssen und auch viel zusammen lachen glücklicher und gesünder, da Küsse die Immunabwehr stärken und damit lebensverlängernd sind.

Also stimmt bei Paaren, die wir küssen sehen, alles?

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Küsse in der Öffentlichkeit können natürlich auch eine Signalwirkung haben: „Bei uns ist alles super“, diesem Instrument bedienen sich auch gerne mal Paare, wo gerade nicht mehr alles okay ist. Manchmal ist es auch Ausdruck einer gewissen Reviermarkierung: „Pass mal auf, die oder der gehört zu mir, lass hier mal schön die Finger davon.“

In Porno-Filmen wird bekanntlich wenig geküsst.

Küssen ist in professionellen Pornos selten ein Thema und wenn, dann oftmals ein Ausdruck von Machtdemonstration und Unterordnung. Bei Amateurvideos sieht man manchmal noch innige Küsse im Vorspiel, im Fokus bei Pornos steht aber der Geschlechtsakt mit Penetration. Die Tendenz geht dahin, dass sexuelle Reize immer stärker werden. Küssen ist da vom Reiz einfach zu gering, dass viele Menschen sich dies über längere Zeit bereit sind anzuschauen. Küssen ist ein Ausdruck von Liebe, bei Pornos spielen die Triebe die Nummer Eins.

Die Filme sind heute überall verbreitet. Was macht das mit der jungen Generation?

Ich würde sagen, alles was wir uns anschauen, verändert unsere Fantasie. Doch auch wenn in Pornos wenig liebevolle Küsse zu sehen sind: Die meisten junge Leute erleben dann in der Realität schon, dass Küssen extrem cool ist. Leider stehen sie unter ganz schönem Erfolgsdruck, nach dem was sie in Pornos davorgesetzt bekommen. Da kommen sie eher in den Performance-Modus, als in den Genießer-Modus. Es wäre wünschenswert, dass sich junge Paare ganz viel Zeit lassen, ihren Körper im Zusammenspiel mit dem Partner Stück für Stück zu erkunden und sich nicht gleich auf die Suche nach multiplen Orgasmen und Dauererregung machen.

Eine Frage, die sie wahrscheinlich oft hören: Wie sieht der perfekte Kuss aus?

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Da gibt es kein Richtig und kein Falsch. Man muss es spüren und in den Flow kommen – es soll ja ein Spiel miteinander werden. Meiner Meinung nach gibt es nichts, was man nicht machen darf. Auch unsaubere Küsse, an der Lippe knabbern, um die Zähne streichen kann sehr erotisch sein. Ich würde es intuitiv angehen, am Anfang vorsichtig und nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Und ab und an auch in langjährigen Partnerschaften mal wieder ganz bewusst küssen. Nicht nur diese routinemäßigen Küsse, weil es einfach eine Gewohnheit ist – sondern ein Kuss bei dem der Partner merkt: Ich bin tatsächlich gemeint und es bedeutet mir wirklich was.

Heike Melzer ist Neurologin und Psychotherapeutin und führt eine privatärztliche Praxis für Paar- und Sexualtherapie in München. Zuletzt erschien ihr Buch „Scharfstellung“ im Verlag Klett-Cotta. Darin geht es auch um sexuelle Superreize wie Pornos, Sex-Toys aber auch ständig wechselnde Partner, die unsere Fantasien, unser Wollen und Können verändern.

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Von Alice Mecke/RND

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