Sitz und Platz – der Sessel zieht wieder ins Wohnzimmer ein
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Sofas sind zum Kuscheln, Sessel sind für Individualisten, die für sich sein wollen.
© Quelle: imago images / Westend61
Hanover. Das gute Stück fand sich in einem kleinen Designermöbelladen. Da gab’s ein paar Klassiker, die für uns Normalsterbliche unbezahlbar waren, aber auch Entwürfe von jungen Gestaltern, die sich noch nicht ihren Namen mitbezahlen ließen. Eigentlich waren wir auf der Suche nach einem nicht allzu ausladenden Sofa, das die rote Lieblingscouch über Eck ergänzen sollte. Wir schlenderten herum, die Tochter blickte kritisch auf die Preisschilder, die Enkel spielten hinter Rolf Benz Verstecken. Und dann stand er da. Ein Sessel. Niedrig, beinahe gedrungen. Und breit – fast wie ein nicht allzu ausladendes Sofa. Mit braun meliertem Stoff bezogen, auf eine eigenwillige, raue Art schön. Und unten mit Kufen dran. Ein Schaukelsessel.
Ausladende Wohnlandschaften haben ausgedient
Über Jahre waren in deutschen Wohnzimmern die Sitzlandschaften das Maß aller Dinge. Groß genug, um der halben Verwandtschaft Platz bieten zu können, mit ausreichend Kissen für ganze Kindergartenkissenschlachten, und mit eingebauten versteckten Ausziehteilen, damit der Kindergarten oder die Verwandtschaft auch über Nacht bleiben konnten. Es war meist alles viel zu ausladend für gewöhnliche Mietwohnungswohnzimmer. Aber diese Ära geht jetzt freundlicherweise zu Ende. Stattdessen liegen Sessel wieder im Trend. Einzeln oder mit Sofas, die zierlicher als bisher sind. Wenn man kombiniert, geht das Ton in Ton oder farblich deutlich abgesetzt, in Stoff oder Leder oder beidem.
Unser Sofa, wie gesagt, war rot. Der Kufensessel braun. Das gute Stück, verriet der immer ein bisschen schnurrende Verkäufer, sei eigentlich ein Gartenmöbel. Er holte einen Prospekt, auf den Fotos räkelten sich italienische Schönheiten auf Bootsstegen an italienischen Gestaden in Sesseln wie dem unseren. Dolce Vita, sagte der Verkäufer und zwinkerte, die Tochter wandte sich konsterniert ab. Die Enkel brachten eine Vase ins Wanken, fingen sie aber gerade noch auf.
Charles II. erfand (vermutlich) die Vorstufe des Ohrensessels
In grauer Vorzeit saß man auf der Erde, erst die alten Ägypter fertigten Schemel für ihre Pharaonen, um deren herausgehobene Stellung zu unterstreichen. Seit damals sind die Chefsessel immer einen Tick höher als die des Fußvolks. Im 16. Jahrhundert entwickelte sich der Stuhl – Exemplare mit Armlehne waren für die Hausherren reserviert. Noch zu Beginn von Thomas Chippendales Zeiten gerieten die Sitzmöbel den Schreinern meist unbequem, sie zu polstern war kompliziert. Aber das änderte Chippendale. Charles II., König von England, soll sich um 1660 den “Sleeping Chayre” ausgedacht haben, mit Armlehnen und Kopfstützen, das besiegelte den Puritanismus und bildete schon mal eine Vorstufe des Ohrensessels. Diesen Inbegriff des Sessels hat dann der schottischer Architekt Robert Adams ziemlich pünktlich zum Ende des Barock 1771 entworfen, nach einem Auftrag von Philipp Stanhope, Earl of Chesterfield.
Ein Stück für Individualisten
Der Graf meinte, in Zeiten der Aufklärung sei es nicht mehr opportun, sich auf den Chaiselongues herumzufläzen. Aufrecht, im Sessel, könne man besser diskutieren. Heute gehören Sessel in der Regel nicht so sehr zur Grundausstattung von Diskussionsrunden, sondern eher zum heimeligeren Teil des Hausrats. Wobei der Ohrensessel ein paar Jahrzehnte Spießerimage ertragen musste, was auch auf die in Amerika erfundene Unart zurückging, hochlehnige Sessel vor Fernsehgeräten mit Motoren in Liegepositionen zu bringen, während Fußablage und Getränkehalter automatisch ausklappen – die allabendliche Opfergabe an den Gott der Fettleibigkeit.
Doch inzwischen sind die Ohrensessel und ihre kleineren Brüder längst wieder auf dem Weg des Comebacks, denn sie haben etwas, das Sofas und Sitzlandschaften nicht bieten können: Sie sind eine Privatangelegenheit. Sofas sind zum Kuscheln, Sessel sind für Individualisten, die für sich sein wollen.
Ein Sessel für alle Fälle
In unserem Designershop fragten wir den schnurrenden Verkäufer nach dem fehlenden Preisschild des italienischen Schaukelsessels. Er geriet kurz ins Stocken, entschuldigte sich, das Teil sei gerade erst vom Lkw geladen worden, er müsse mal schauen. Das tat er, es dauerte, was den Enkeln die Chance gab, eine Kreation der Marke Walter Knoll einem ausführlichen Belastbarkeitstest zu unterziehen. Dann kam der junge Mann zurück und flötete eine Summe. Die Tochter schnappte vernehmlich nach Luft.
Wer im Sessel sitzt, ist geschützt, im Extremfall von hinten und von den Seiten und bis über den Kopf. Der Sessel verspricht, alle Stürme des Lebens fernzuhalten, er gibt Halt, sogar an den Hüften. Man kann lesen, man kann relaxen, fernzusehen ist auch erlaubt. Man kann sich sogar einem Gegenüber zuwenden und diskutieren. Und selbst wenn man einnickt, tut man das im Sessel noch aufrecht und mit Würde. Einstein, heißt es, habe nicht nur die Relativitätstheorie, sondern auch den Powernap im Sessel erfunden, mit dem Schlüssel in der Hand: Fiel der Schlüssel, war er wieder wach und erfrischt und bereit für neue revolutionäre Gedanken.
Der Sessel verleiht dem Raum erst Charakter
Trendanalysten raten zu Ohrensesseln für die Leseecke und zu etwas kleineren und offeneren Exemplaren (wie unserem!), wenn man die Sitzlandschaft aus dem Wohnzimmer geworfen und schon ein Sofa reingestellt hat. Ist die Couch farblich eher dezent ausgefallen, dürfe man sich beim Sessel was Knalliges in Blau oder Grün leisten. Je kleiner das Möbel, umso kräftiger der Farbton. Der Sessel ist der Akzent, der dem Raum den Charakter verleiht.
Wir haben das italienische Stück dann sofort mitgenommen, auf einem von der Tanke geliehenen Anhänger. Es fügt sich seitdem sehr harmonisch auf seinem Platz neben dem roten Sofa ein, und irgendwie geht von ihm immer ein Hauch von Mittelmeer und Sommer aus. Nur das mit dem Für-sich-Sein funktioniert bei diesem schönen Stück nicht hundertprozentig. Die Enkel haben schnell entdeckt, dass der Sessel breit genug ist, um es sich darin samt Opa bequem zu machen und sich was vorlesen zu lassen. Was der Opa natürlich gern tut.