So geben Sie Ihren Kindern Rückgrat

Helmut Nowak ist Coach und Lehrer für Achtsamkeit und Stressbewältigung und schildert hier regelmäßig, wie man lernt, bewusster zu leben.

Helmut Nowak ist Coach und Lehrer für Achtsamkeit und Stressbewältigung und schildert hier regelmäßig, wie man lernt, bewusster zu leben.

Hannover. Strenge Eltern und Lehrer, Vorschriften und Regeln, Belohnung und Bestrafung waren Merkmale der Erziehung, die vorwiegend in der Nachkriegsgeneration vorherrschte. Emotionale Zuwendungen den Kindern gegenüber gab es eher selten. Dieser autoritäre Erziehungsstil führte oft zu gering ausgeprägtem Selbstwertgefühl, Aggression und Unselbstständigkeit. Obwohl heute immer noch nicht vollständig überwunden, gilt dieser Erziehungsstil inzwischen als überholt. Es ist kaum verwunderlich, dass sich irgendwann der Druck entlud und diese Art der Erziehung in das Gegenteil umschlug. Dann, Ende der 1960er- und in den 1970er-Jahren, kam die Zeit der antiautoritären Erziehung in verschiedenen Ausprägungen. Zu ihren wesentlichen Merkmalen zählte das Ideal der Freiheit und der Entwicklungsautonomie des Kindes. Gelebt und umgesetzt wurde die antiautoritäre Erziehung unter anderem in selbstverwalteten Kindergärten – sogenannten Kinderläden –, die von 1967 an in vielen deutschen Großstädten entstanden. Darüber hinaus entstanden Alternativschulen wie die Glocksee-Schule in Hannover und die Freie Schule Frankfurt, an denen ebenfalls die antiautoritäre Erziehung praktiziert wurde.

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Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mich zu der Zeit als ganz junger Mann das Lied „Sind so kleine Hände“ von Bettina Wegner, der systemkritischen Liedermacherin aus der DDR, sehr berührt hat: „Sind so kleine Hände / winz’ge Finger dran. / Darf man nie drauf schlagen / die zerbrechen dann / Sind so schöne Münder / sprechen alles aus. / Darf man nie verbieten / Kommt sonst nichts mehr raus … Sind so kleine Seelen / offen und ganz frei. / Darf man niemals quälen / geh’n kaputt dabei. / Ist so ’n kleines Rückgrat / sieht man fast noch nicht. / Darf man niemals beugen / weil es sonst zerbricht. / Gerade, klare Menschen / wär’n ein schönes Ziel. / Leute ohne Rückgrat / hab’n wir schon zu viel.“

Erziehungsratgeber dienten der Verwirrung

In der Zeit danach erschienen dann Erziehungsratgeber und -bücher in großer Vielzahl, was mehr zu Verwirrung führte als der Orientierung diente. Seit wenigen Jahren allerdings wurde ein ganz neues Kapitel in der Erziehung (wenn ich den Begriff höre, muss ich immer an Spalierobst denken) aufgeschlagen. Es forschen nämlich auch mehr und mehr Neurowissenschaftler auf diesem Gebiet und fördern revolutionäre Einsichten für die gesunde Entwicklung von Kindern zutage.

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Schauen wir uns mal als Ausgangspunkt die Ergebnisse der Stressstudie 2015 der Universität Bielefeld an: Fast jedes sechste Kind und jeder fünfte Jugendliche weist deutliche Stresssymptome auf. Die Ursache ist vor allem wenig Freiraum für eine kindliche Selbstbestimmung in Verbindung mit einer hohen Erwartungshaltung der Eltern an ihre Kinder. Die Folgen sind häufig Depressionen, Versagensängste sowie deutlich erhöhtes Aggressionspotenzial. So berichtete nahezu jedes zweite Kind: „Wenn ich nicht gut bin in der Schule, sind meine Eltern enttäuscht.“ Dieser Schulstress wirkt sich gravierend auf die schulischen Leistungen, die Motivation und die soziale Kompetenz der Kinder aus.

Keine Freude am Lernen, keine Freude am Leben

Ein Teufelskreis also. Wer sich in Deutschland in diesem Kontext einen bedeutsamen Namen gemacht hat, ist der Neurowissenschaftler Prof. Dr. Gerald Hüther. Er leitete das Forschungsprojekt „Entwicklungsneurobiologie“ am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin und das Forschungslabor der Universität Göttingen. Er ist auch Autor zahlreicher Sachbücher wie „Etwas mehr Hirn, bitte: Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten“ (2015).

Eine seiner Kernaussagen lautet: „Kindern Wissen einzubläuen, nur weil wir Erwachsenen meinen, dass sie das am besten für den Wettbewerb des Lebens vorbereitet, kann langfristig auch das Gegenteil verursachen. Wissen müssen sich die Kinder selbst aneignen wollen. Das Wichtigste, was Schule Kindern mitgeben sollte, ist die Freude am Lernen. Wer die Freude am Lernen verliert“, so Hüther, „verliert auch die Freude am Leben.“

Das Grundproblem liegt in der allgemeinen Vorstellung begründet, dass man Kindern Wissen beibringen kann. Die Erfahrung zeigt, dass es weder mit Zuckerbrot noch mit Peitsche gelingt. Es gelingt nur, wenn man Rahmenbedingungen schafft, die es ermöglichen, dass sich die Bedürfnisse der Kinder erfüllen können, die in diesem Zusammenhang relevant sind: Zugehörigkeit, Selbstbestimmtheit, Entdeckerfreude sowie sich gesehen und geliebt fühlen. Dann nämlich können Lernprozesse und die Freude am Leben entfaltet werden, und der Fixierung auf gute Noten mit dem damit verbundenen Frust wird ein Ende bereitet.

Von Helmut Nowak/RND

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