“Tierische Produkte sind für die globale Ernährung notwendig”
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Kühe aus biologischer Landwirtschaft, wie hier auf dem Jahnsfelder Biolandhof in Brandenburg, brauchen kein Kraftfutter, leben gesünder und sind fruchtbarer.
© Quelle: imago images/Jochen Eckel
Der Schweizer Agrarwissenschaftler Urs Niggli ist ein Vordenker der biologischen Landwirtschaft. Der 67-Jährige führte 30 Jahre lang das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) in Frick im Schweizer Kanton Aargau. Seit April 2020 ist Niggli Direktor des von ihm gegründeten Instituts für nachhaltige Ernährungs- und Landwirtschaftssysteme agroecology.science. Im RND-Interview sorgt Niggli, der einen Lehrauftrag an der ETH in Zürich sowie Honorarprofessuren in Kassel und Peking innehat, für überraschende Einblicke in die biologische Landwirtschaft.
Was hatten Sie heute morgen zum Frühstück?
Einen Cappuccino mit Milch – natürlich beides aus biologischer Landwirtschaft.
Könnte die Welt ernährt werden, wenn jeder Biomilch zum Frühstück hätte?
Ob die Landwirtschaft die Welt ernähren kann, hängt kaum damit zusammen, ob ihre Produkte biologisch oder konventionell erzeugt werden. Entscheidend ist vielmehr, wie viel Essen wir verschwenden und wie groß der Anteil tierischer Produkte in unserer Nahrung ist. Die Hauptprodukte des Ackerbaus sollten direkt von Menschen gegessen, anstatt an Tiere verfüttert zu werden. 75 Prozent der Kalorien im Getreide gehen verloren, wenn daraus Milch oder Fleisch gemacht wird.
Also ist Milch zum Frühstück nicht nachhaltig?
Doch. Wiederkäuer sind die einzigen Nutztiere, die aus Gras – Pflanzen, die sonst kaum als Futter verwendet werden können – in großer Menge hochwertiges Protein herstellen. Deshalb habe ich mit großem Genuss den Cappuccino getrunken.
Aber Kühe werden ja nicht ausschließlich mit Gras gefüttert – auch Kraftfutter wie Mais kommt zum Einsatz, das auf dem Acker angebaut wurde.
Das ist richtig, aber das ist eine widernatürliche Fütterung, der Magen versäuert, macht die Wiederkäuer krank und verringert ihre Lebenserwartung – vor allem die der Kuh. Viele Biobauern züchten Kühe dagegen so, dass diese sehr viel Gras in sich hineinfressen. Bei manchen liegt der Getreideanteil im Futter bei nur noch 5 Prozent. Zum Vergleich: In der konventionellen Landwirtschaft innerhalb der EU wird an Kühe bis 50 Prozent Getreide gefüttert, in Deutschland etwa 40 Prozent.
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Professor Urs Niggli appelliert an ein höheres Ernährungsbewusstsein bei den Menschen.
© Quelle: Fibl
Die konventionellen Bauern sagen, es braucht Kraftfutter, um genügend große Mengen Milch zu produzieren.
Landwirte überschätzen die Wirkung des Kraftfutters auf die Milchleistung. Aber klar, eine Turbokuh gibt 40 Liter Milch pro Tag, eine mit wenig Kraftfutter nur 25 Liter. Trotzdem ist eine solche Kuh am Schluss wirtschaftlicher.
Warum?
Die Bauern sparen Kosten für Kraftfutter und für den Tierarzt, die Kühe leben länger und sind fruchtbarer.
Trotzdem produziert die gesamte Biolandwirtschaft einen geringeren Ertrag als die konventionelle Landwirtschaft – das bedeutet doch: Mehr Bio bedeutet noch mehr Fläche, die landwirtschaftlich genutzt werden muss?
Man sieht in allen Studien, dass das Ertragsdefizit im Biolandbau bei 20 bis 25 Prozent liegt verglichen mit konventioneller Landwirtschaft. Theoretisch bräuchte man also mehr Fläche. Sie konstant zu halten funktioniert nur, wenn man weniger Lebensmittel wegwirft. Und wenn man weniger Ackerfläche nutzt, um Tiere zu ernähren.
Also ist unser Konsum von Eiern, Hühner- und Schweinefleisch ein Problem?
Der Bestand an Geflügel und Schweinen müsste massiv gesenkt werden, wenn wir die Welt ohne massive Umweltbelastung ernähren wollten. Wir müssten mehr Proteine aus pflanzlichen Quellen statt aus tierischen zu uns nehmen.
Was bedeutet „massiv“?
Wir haben das modelliert für das Jahr 2050 mit den Bedingungen, dass wir gleich viel Grasland und Ackerfläche nutzen wollen wie heute. Die Proteinversorgung pro Mensch pro Tag wollen wir dabei stabil halten bei 77 Gramm Protein pro Kopf pro Tag. Heute liegt der Anteil, der aus den Tieren kommt, bei 34 Prozent. In unserem Nachhaltigkeitsszenario dürften es nur noch 11 Prozent sein. 89 Prozent des Proteins müsste also aus Hülsenfrüchten wie Bohnen, Erbsen, Linsen kommen. Geflügel- und Schweinebestände müssten mindestens halbiert werden.
Jeder Vegetarier und jeder Veganer ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft?
Ja sicher! Aber wir sollten daraus keine Religion machen. Zwei Drittel der weltweiten Landwirtschaftsfläche ist Grasland, das man nicht pflügen kann. Darauf kann man Milch und Fleisch erzeugen. Mit Maß genossen sind tierische Produkte also nicht nur sinnvoll, sondern für die globale Ernährung notwendig.
Wie sieht es mit Eiern aus?
Ich schätze, dass wir den Eierkonsum in Mitteleuropa um zwei Drittel senken müssten.
Ist das Bioei also nicht nachhaltig?
Für Bioeier- und Bioschweinefleischproduktion werden Soja und andere Getreideprodukte verfüttert – eben mit Bioqualität. Biobetriebe versuchen mittlerweile aber den Import aus Lateinamerika oder aus China zu vermeiden, dann sind zumindest die Transportwege kürzer. Viele Bauern produzieren ihr Futtergetreide auf ihren Feldern selbst. Aber ökologisch gesehen ist die Eier- und Schweinefleischproduktion eine Getreideverwertung.
Was könnte man Hühnern als Futter geben, wenn man in der Eierproduktion ganz auf Produkte aus dem Ackerbau verzichten wollte?
Sowohl im Ackerbau wie in der Verarbeitung gibt es Abfall- oder Nebenprodukte wie Kleie, Ölkuchen oder Treber aus Brauereien. Die kann man verfüttern. Wir experimentieren auch mit der Schwarzen Soldatenfliege. Die kann man auf organischem Abfall züchten. Sie liefert hochwertiges Insektenprotein. Das ist wunderbares Hühnerfutter.
Wie funktioniert das?
Die Fliege legt Eier, aus denen Larven schlüpfen. Diese fressen sich durch den Abfall. Am Schluss verpuppen sich die Larven wie Schmetterlinge – und daraus entsteht dann wieder eine neue Fliege. Kurz bevor sie sich verpuppt ist die Larve dick und fett. Das ist hochwertiges Protein, das man verfüttern kann.
Das schmeckt den Hühnern?
Die lieben es – Insekten gehören ja zu ihrer natürlichen Ernährung.
Aber wie kann man sich eine Produktion im großen Stil vorstellen?
Wir produzieren in großen Containern, die über Wochen durch Maschinen geschüttelt werden. Am Schluss, kurz bevor sich die Insekten verpuppen, hat man dann pro Container Millionen von Tieren, die oben auf liegen und die man leicht ernten kann.
Biologische Landwirtschaft stellt man sich anders vor.
Die natürliche Lebensweise des Huhns wäre: Es läuft frei herum und pickt Regenwürmer und Insekten aus dem Boden. Aber dass man auf diese Weise Eier produzieren kann, zu dem Preis, den wir heute bezahlen, das glaubt nicht mal der naivste Konsument. Die Menschen können Werbung und Realität trennen. Das Gros der Bioproduktion wird nicht von Kleinbetrieben gestemmt, sondern von sehr professionellen, mittelgroßen Betrieben.
Ist es realistisch, dass in Afrika, einem Kontinent mit so vielen Problemen, Biolandwirtschaft in nennenswertem Umfang betrieben wird?
Es gibt viele tolle Biobetriebe in Asien, Afrika und Lateinamerika – besonders dort, wo sich NGOs und Hilfsorganisationen engagieren, denn die bringen Wissen ein, das sonst fehlt. Viele Länder, vor allem in Afrika, mussten wegen des IWFs gewaltige Budgeteinsparungen machen. Die landwirtschaftliche Beratung haben sie deshalb durch die Chemie- und Düngerberater von Unternehmen machen lassen. Wenn man eine nachhaltige Form der Landwirtschaft umsetzen möchte, dann muss die landwirtschaftliche Beratung – genau wie Forschung und Bildung – unabhängig sein.
Was bedeutet nachhaltig?
Die UNO hat 17 Nachhaltigkeitsziele definiert. Besser kann man es nicht definieren. Und es sind auch die Wege dahin beschrieben. Da sind die zum Beispiel die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung, die Reduktion des tierischen Konsums oder generell eine agrarökologische Landwirtschaft darunter, wie auch die Sensibilisierung der Bevölkerung für Umweltthemen.
Zuletzt zeigten Sie sich auch offen gentechnischen Veränderungen in der Landwirtschaft gegenüber.
Ich bin in erster Linie Agrarwissenschaftler und darf in zahlreichen wissenschaftlichen Kommissionen in Europa und bei den Vereinten Nationen mithelfen, Lösungen für die Zukunft der Welternährung zu finden. In 30 Jahren werden zwei Milliarden Menschen mehr am Tisch sitzen. Gleichzeitig ist der fruchtbare Boden ein zunehmend rares Gut, und die heutige intensive Landwirtschaft verringert die biologische Vielfalt. Der Biolandbau, der zurzeit 1,4 Prozent der Fläche ausmacht, ist einer von vielen Ansätzen, diese Probleme anzugehen. Aber es auch gibt zahlreiche andere Wege. Darauf wollte ich in meinem Vortrag aufmerksam machen.
Einer dieser Wege ist die neue Gentechnik mit der Genschere Crspr/Cas9. Sie haben sich dieser Technik offen gegenüber gezeigt. Sehen Sie darin kein Risiko mehr für Mensch und Umwelt?
Die alte grüne Gentechnik basierte darauf, dass im Labor künstlich zusammengesetzte Erbmoleküle in Pflanzen eingeschleust wurden. Crispr/Cas9 dagegen führt zu gezielten Mutationen, wie das auch in der Natur ständig, aber zufällig passiert oder wie sie der Mensch seit 50 Jahren mit Chemie oder Bestrahlung auslöst. Alle unsere Kultursorten basieren auf solchen Mutationen. Die modernen Züchtungsmethoden mittels Genschere sind deshalb ein großer Fortschritt. Die Risiken sind jedenfalls geringer und die Chancen größer als bei der alten Gentechnik. Einerseits sind die Eingriffe weniger tief, sie kommen auch in der Natur vor, und andererseits ist der züchterische Fortschritt viel rascher.
Also sind sie doch dafür, diese moderne Gentechnik im Biolandbau zuzulassen?
Das werden die Biobauern in der EU entscheiden. Meine Meinung dazu ist irrelevant. Der Biolandbau hat sich immer als alternative Technologie verstanden. Deshalb verstehe ich auch, dass man hier den steinigen Weg gehen möchte.
Was sind Ihre Forderungen an die Politik?
Alle staatlichen Unterstützungsmaßnahmen sollten an nachhaltige Verwendung gebunden sein. In der EU werden 54 Milliarden Euro ohne ökologische Auflagen ausbezahlt. Dabei kann man mittlerweile in wenigen Stunden analysieren, wie weit Landwirtschaftsbetriebe nachhaltige Ziele erreichen. Da wir heute von nachhaltiger Ernährung reden sollten, um die Bauern etwas aus dem Schussfeld zu nehmen, muss die Ernährung wieder zu einem wichtigen Bestandteil der Bildung werden. Wir essen ja buchstäblich den Planeten auf. Und übrigens ist eine ökologische Ernährung auch eine gesunde Ernährung. Wir könnten Milliarden im Gesundheitswesen einsparen, da falsche Ernährung die Ursache vieler Krankheiten und Gebrechen ist.
Frederik Jötten/RND