„Wir müssen künftig die Männer miteinbeziehen“

„Ich bin stolz darauf, Feministin zu sein“: Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal findet den Frauentag „wichtig und toll“.

„Ich bin stolz darauf, Feministin zu sein“: Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal findet den Frauentag „wichtig und toll“.

Düsseldorf-Oberbilk in den Siebzigerjahren. Ein eher trister Stadtteil in Nordrhein-Westfalens Landeshauptstadt, ein früheres Arbeiterviertel. Wegen der niedrigen Mieten zieht es viele Einwanderer an: italienische, marokkanische, türkische und griechische. Eigentlich ist es ein Ort, an dem ein Mädchen mit sogenanntem Migrationshintergrund Gleichgesinnte finden müsste. Hier gibt es viele, die in Deutschland aufwachsen, möglicherweise sogar einen deutschen Pass besitzen und zugleich Heimatgefühle für die Länder ihrer Großeltern, Onkel und Tanten empfinden.

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Die kleine Mithu Melanie Sanyal jedoch findet selbst bei den Gastarbeiterkindern keine Vorbilder, die ihr helfen könnten zu erkennen, wer sie ist. Von weißen, deutschen Mädchen ganz zu schweigen. „Mich gab es nicht. Nicht in der Kinderliteratur und auch sonst nicht“, so beschreibt die Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Mithu Melanie Sanyal ihr Lebensgefühl in der Kindheit.

Indische und polnische Wurzeln

Der Grund: Sanyals Herkunft ist ein Schmelztiegel aus verschiedenen Kulturen von Migranten. Der Vater hat indische Wurzeln, die Mutter polnische. Deren Familie gehört zu den „Ruhrpolen“, Einwanderern, die im Ruhrgebiet im Bergbau Arbeiten fanden und harte Ausgrenzung erfuhren. „Polacken, Kakerlaken“ ist nur eine Beschimpfung für diese Menschen; die Mutter spricht kaum über ihre Kindheit. Umso wichtiger ist ihr, dass die Tochter die deutsche Staatsbürgerschaft erhält. „Ich weiß noch heute, wie sie mir die Urkunde zeigte und sagte: ‚Jetzt hast du einen deutschen Pass. Das ist wichtig‘“, erinnert Sanyal sich. Das Mädchen ist damals vier Jahre alt.

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Sanyal wächst einsprachig auf, was sie bis heute bedauert. Sich auf Bengali mit den indischen Verwandten zu verständigen, die so weit weg leben, ist schwer. Indische Literatur liest sie in englischer Übersetzung. Auch das Gefühl in der Familie des Vaters dazuzugehören wird dadurch erschwert, dass sie deren Sprache nicht spricht. Es verwundert bei diesem Hintergrund nicht, dass Sanyal mit „Identitti“ gerade einen Roman geschrieben hat, der die Frage nach der Identität ins Zentrum stellt.

In der Frauenbewegung ein Gefühl der Zugehörigkeit

Ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt ihr erst viele Jahre später die Frauenbewegung. Im Studium der Kulturwissenschaften geben ihr die Texte der afroamerikanischen Frauenbewegung, der „women of colour“, Halt. „Du lebst in einem Land, in dem du sichtbar nie dazugehören wirst“: In den Beschreibungen schwarzer Frauen, die für Gleichberechtigung kämpfen, findet sie sich endlich wieder. „Ich bin stolz darauf, Feministin zu sein“, sagt Sanyal heute. Auch den Weltfrauentag empfindet sie als „wichtig und toll“.

Mich gab es nicht. Nicht in der Kinder­literatur und auch sonst nicht.

Mithu Sanyal, Kulturwissenschaftlerin

Fühlt sie sich eher als Frau oder als Migrantin diskriminiert? Das könne man nicht trennen, sagt Sanyal bestimmt. Ein Beispiel? „Einen Wohnungsbesichtigungstermin mit meinem Namen zu finden? Unmöglich!“, sagt sie und lacht: „Das ändert sich erst, wenn ich meinen Doktortitel ins Spiel bringe.“ Es gebe aber auch klassische erotische Stereotype, wie den Wunsch mancher Männer, einmal mit einer indischen Frau zu schlafen. Sanyal fühlt sich in einem Feminismus gut aufgehoben, der mitdenkt, dass Frauen nicht nur aufgrund ihres Geschlechts, sondern aus vielen Gründen diskriminiert werden können.

„Männer werden zu Männern gemacht“

Dennoch – Mithu Sanyal zufolge wäre es Zeit, den Blick zu erweitern, auf Männer nämlich. „Geschlechtergerechtigkeit muss sie miteinbeziehen“, sagt die Kulturwissenschaftlerin. Simone de Beauvoirs berühmter Satz gelte auch für sie: „Auch Männer werden nicht als Männer geboren, sondern dazu gemacht.“ In der Schule beispielsweise seien nicht mehr die Mädchen, sondern migrantische Jungen Bildungsverlierer, sagt sie. „Wir haben unbewusste sexistische Vorstellungen in Bezug auf diese Jungen“, so Sanyal. „Das müssen wir ändern.“

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Mithu Sanyal wurde 1971 in Düsseldorf geboren und ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin, Journalistin und Literaturkritikerin. 2009 erschien ihr Sachbuch „Vulva. Das unsichtbare Geschlecht“ und 2016 „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“. Vor Kurzem ist ihr erster Roman „Identitti“ (Hanser-Verlag, 432 Seiten, 22 Euro) erschienen.

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